Bild und die „Macht der Bilder“
Intellektuelle Bekenntnisse zur Antiintellektualität nationalistischer Gesinnungspflege
Eine von vielen tausend Leichen des syrischen Bürgerkrieges und der verzweifelten Massenflucht aus diesem Gemetzel schafft es im September als großes Foto auf die Titelseite der Bild-Zeitung. Es wird schon so sein, dass das großformatige, gestochen scharfe Foto eines ertrunkenen Kindes den Betrachter anrührt und dass ein halbwegs normal gebliebenes Gemüt einen solchen Anblick nur schwer ertragen kann. Das ist eine Sache.
Eine ganz andere Sache ist aber, was dieses Foto für Bild „dokumentiert“, d.h. was Bild daraus macht: Die Betroffenheit, die sie mit dem Foto evozieren will, setzt sie gleich mit einem schlechten Gewissen, das sich jeder Betrachter daraus machen soll, und zwar als Mitglied „unserer Zivilisation“.
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Systematischer Katalog
Länder & Abkommen
Bild
und die Macht der Bilder
Intellektuelle Bekenntnisse zur Antiintellektualität
nationalistischer Gesinnungspflege
Eine von vielen tausend Leichen des syrischen Bürgerkrieges und der verzweifelten Massenflucht aus diesem Gemetzel schafft es im September als großes Foto auf die Titelseite der Bild-Zeitung:
„Ein syrisches Kind liegt tot am Strand von Bodrum (Türkei), ertrunken auf der Flucht vor dem Krieg in seiner Heimat, gestorben auf dem Weg nach Europa. Bilder wie dieses sind schändlich alltäglich geworden. Wir ertragen sie nicht mehr, aber wir wollen, wir müssen sie zeigen, denn sie dokumentieren das historische Versagen unserer Zivilisation in dieser Flüchtlingskrise. Europa, dieser unermesslich reiche Kontinent, macht sich schuldig, wenn wir weiter zulassen, dass Kinder an unseren Küsten ertrinken. Wir haben zu viele Schiffe, zu viele Hubschrauber, zu viele Aufklärungsflugzeuge, um dieser Katastrophe weiter zuzusehen. Dieses Foto ist eine Botschaft an die ganze Welt, endlich vereint dafür zu sorgen, dass kein einziges Kind mehr auf der Flucht stirbt. Denn wer sind wir, was sind unsere Werte wirklich wert, wenn wir so etwas weiter geschehen lassen?“
Es wird schon so sein, dass das großformatige, gestochen scharfe Foto eines ertrunkenen Kindes den Betrachter anrührt und dass ein halbwegs normal gebliebenes Gemüt einen solchen Anblick nur schwer ertragen kann. Das ist eine Sache.
Eine ganz andere Sache ist aber, was dieses Foto für
Bild dokumentiert
,
d.h. was Bild daraus
macht: Die Betroffenheit, die sie mit dem Foto
evozieren will, setzt sie gleich mit einem
schlechten Gewissen, das sich jeder Betrachter
daraus machen soll, und zwar als Mitglied unserer
Zivilisation
. Das Mitleid von Mensch zu Mensch
übersetzt Bild so in
etwas ganz anderes: in ein kollektives Schuldbewusstsein,
in die von ihr stellvertretend zu leistende Selbstkritik
einer Zivilisation
, die vor ihren Werten
versagt
. Die Schuld, die dieses Kollektivsubjekt
auf sich geladen haben soll, wiegt so richtig schwer,
wenn man in den Blick nimmt, worauf Bild sofort den Blick lenkt: darauf
nämlich, wie unermesslich reich
der Kontinent ist,
auf dem sich diese Zivilisation tummelt; und auf die
vielen Schiffe, Hubschrauber,
Aufklärungsflugzeuge
, die sie ihr Eigen nennt. Denn
exakt so soll man, d.h. jeder einzelne Bild-Leser, die interessanten
Gerätschaften betrachten: als eine gewaltige
Verfügungsmasse sehr potenter Mittel, über die er als
Angehöriger der werteorientierten Zivilisation Europa
disponieren kann und muss, wenn wir das Versagen
unserer Zivilisation
endlich beenden wollen. Zwar
weiß Bild ganz genau,
dass die unermesslich
vielen Mittel, aus denen wir
so schändlich
wenig machen, nicht das
Kollektiveigentum der europäischen Zivilisation, sondern
die Potenzen der europäischen Staatsmächte sind, von
deren mächtigster die Leser der Bild regiert werden. Und Bild weiß auch, dass diese Mächte
sich diese Mittel ganz bestimmt nicht angeschafft haben,
weil man mit ihnen so prima Kinder aus
Bürgerkriegsgegenden retten kann. Aber das Zentralblatt
aller Humanisten will partout auf das Gegenteil hinaus.
Die Macht- und Gewaltmittel, über die diese Staatsmächte
verfügen, soll jeder einzelne Bild-Leser ganz als Hebel für die
Durchsetzung von allgemein-menschlichen Werten nehmen;
sich selbst soll er als Kommandanten gesamteuropäischer
Flugzeugträgerflotten und Hubschraubergeschwader
imaginieren. Und in dieser Rolle hat er dann auch als
einzelner Mensch die vielen menschlichen Schicksale, für
die der kleine Syrer Aylan stellvertretend steht, aufs
eigene Gewissen zu laden, weil und solange er, zusammen
mit uns
allen, den Einsatzbefehl verweigert, den
Bild fordert – letztlich
dann natürlich doch nicht von ihm, sondern
in seinem Namen von den wirklichen Inhabern der
Befehlsgewalt, auf dass die ihre weltpolitische
Zuständigkeit für die nahöstliche Gewaltorgie und deren
Folgen endlich praktisch wahrnehmen.
Das ist es in Wahrheit, was nicht wir
dem kleinen
Jungen schuldig
sind, sondern Bild sich und dem Nationalismus, für
den sie steht: die verlogene Identifikation von
menschlichem, so reinem wie ohnmächtigem Gefühl und
staatlicher Macht, die darin als die eigene
angesprochen und angebetet wird. So sehr liegt
Bild diese Identifikation
des Einzelnen mit seiner Staatsmacht und ihren Mitteln
unter dem Gesichtspunkt unserer Werte
und ihres
eigentlich weltumspannend segensreichen Wirkens am
Herzen, dass sie mannhaft ankündigt: Für den Fall, dass
ihre Vorgabe, dass kein einziges Kind mehr auf der
Flucht
sterben darf, demnächst wieder verfehlt werden
sollte, wird sie von ihrer so heftig geliebten
kontinentalen Wertegemeinschaft endgültig enttäuscht sein
und deren Werte für nichts mehr wert halten. Man darf
gespannt darauf sein, wie das wohl aussieht, wenn es
soweit ist.
*
Diese Albernheiten sind freilich nicht das, was einem
Gutteil der Medienöffentlichkeit, die sich gern selbst
seriös nennt, an der Idee von Bild aufstößt, Aylans Leichnam groß
und in Farbe auf der Titelseite zu platzieren. Irritiert
und empört fühlen sich die selbstbewussten Vertreter
einer verantwortungsbewussten Betreuung der
Medienkonsumentenschaft von dem in ihren Augen
unwürdigen Zurschaustellen
eines menschlichen
Leichnams. Das – darauf muss man erst einmal kommen –
verletze nämlich das in den entsprechenden Paragraphen
fixierte Recht am eigenen Bild ebenso wie die
Menschenwürde des Kindes, die schließlich nach allen bei
uns herrschenden moralischen und juristischen Maßstäben
über den Tod hinaus schutzwürdig ist. Die eine Fraktion
der Kritiker hält der von ihnen abschätzig betrachteten
Bild die verlogene
Identität von humanitärer Sentimentalität und beherztem
weltpolitischem Auftreten der deutschen und europäischen
Mächte ausdrücklich zugute, besteht aber darauf, dass
kein Zweck die Mittel heiligt
. Die andere Fraktion
gesteht dem verachteten Massenblatt noch nicht einmal
dies zu, sondern entdeckt wieder einmal nur die
gewissenlose Jagd nach Auflage unter dem Deckmantel eines
selbsterteilten moralischen Auftrags.
Von keiner der beiden Abteilungen ihrer Kritiker lässt
sich Bild beeindrucken –
sie nimmt die Gelegenheit wahr und geht in die Offensive:
Sie widmet eine ganze Nummer dem Nachweis, wie grundgut
das von ihr seit Jahr und Tag befolgte Ethos und wie
passgenau die journalistische Methode ist, die sie dafür
praktiziert. Dafür kommt sie auf den Geniestreich, eine
Tagesausgabe völlig ohne redaktionelle Fotos erscheinen
zu lassen, begleitet von einem über eine Seite
ausgewalzten Kommentar dazu. Der beweist, dass diese
Zeitung nicht nur sehr genau weiß, was sie tut, sondern
dass ihre Macher intellektuell genug sind, ihr Tun mit
allen einschlägigen erkenntnis-, diskurs- und
medientheoretischen Spruchweisheiten zu rechtfertigen,
die man an einer deutschen Universität lernen oder im
Internet nachlesen kann: Sie räsonniert über die Macht
der Bilder
.
Die hat drei Momente, die Bild intellektuell redlich voneinander trennt. Sie gibt sich, auf verhältnismäßig vielen Zeilen und ganz ohne Bilder, reichlich Mühe zu erklären, wie diese Macht wirkt:
„Das Bild spricht direkt zum Gefühl, zum ältesten Teil des menschlichen Gehirns, dem Stamm- oder Eidechsenhirn“,
was diese Macht bewirkt –
„Wenn keiner da ist, um etwas wahrzunehmen, kann es im strengen Sinne nicht wahr sein. Die Realität benötigt jemanden, der sie sieht – selbst wenn es nur im Kopf ist... Sie (die Bilder, d.V.) mahnen uns, dass jegliche Zivilisation innerhalb kürzester Zeit zusammenbrechen kann, dass es immer wieder die Menschen sind, die die Tore zur Hölle öffnen, wenn wir weggucken.“ –
und auf wen diese Macht wirkt; nämlich erstens
auf uns als Menschen
:
„Im Menschen lebt ein tiefer Wille zur Einteilung – und das funktioniert nur, wenn wir eine Vorstellung vor unserem inneren Auge erwecken... Die Fähigkeit, sich ein Bild von etwas zu machen, macht uns überhaupt erst zum Menschen... Die alte griechische Sprache kennt viele Wörter für unser Wort Bild. Eines ist εικόυα, eikóna, das Abbild der Realität.“
Zweitens noch einmal auf uns, diesmal in unserer
Eigenschaft als die westlichen Länder
:
„Sie sind reich, sie kennen keinen Hunger, sie kennen Todesangst als alltäglichen Begleiter nicht mehr... Für uns reiche Gesellschaften des Westens ist das (dass es ersatzweise Bilder gibt, d.V.) von unschätzbarem Wert. Denn nur der Westen, mit seinen freien Medien, hat die finanziellen, humanitären und militärischen Kapazitäten und gleichzeitig die Werte (u.a. ausgedrückt durch freie Medien), sich kraftvoll und glaubwürdig dem Chaos entgegenzustellen.“
Was in diesem akademischen Aperçu tatsächlich vorliegt,
ist das selbstverfasste Psychogramm nationalistisch
inspirierter, manipulationsfreudiger Überzeugungstäter.
Die gehen fest davon aus, dass die ganze vor Übeln
strotzende Welt ein einziger Aufruf dazu ist, sie aus der
Perspektive eines Wir
zu betrachten und daraufhin
zu begutachten, was wir
dafür tun können, sie zu
verbessern. Dabei und dafür kommt es darauf an, die im
Westen versammelte ökonomische und militärische Macht von
Staaten als das Handwerkszeug des tätigen Humanismus zu
verbuchen, das der Gesinnung, also allen
Gesinnungsgenossen zur Verfügung steht, die diesen Westen
gemäß dem nicht nur bei Bild beheimateten Weltbild
konstituieren. In dieser Logik sind wir
es, die
einerseits weggucken
, während Menschen die Tore
zur Hölle öffnen
, andererseits sind wir zwar auch
Menschen
, bewohnen aber glücklicherweise die
westlichen Länder
und sind als solche in Gestalt
der einschlägigen Staaten, in denen Geld, Macht und
Sittlichkeit selbstverständlich zusammenfallen, fähig und
beauftragt, dem „Chaos“ Einhalt zu gebieten, das immer
andere veranstalten. Es kommt nur noch darauf an, dass
wir
unseren Werten auch wirklich folgen, also
nicht vergessen, sondern immer wieder daran erinnert
werden, wie sehr das nottut. Und das sollen und können
nach Auffassung von Bild
Bilder leisten: durch die pure Anschauung eines –
dementsprechend ausgewählten – Opfers beim Betrachter die
passenden Vorstellungen von Gut und Böse und einer daraus
folgenden Pflicht zum machtvollen Eingreifen des Westens
wachrufen, auf die es dem nationalen Volksblatt ankommt.
Bild geht dabei schlicht
davon aus, dass die Identifizierung des eigenen
moralischen Urteils über das – gute – Wir
und die
– böse – Welt mit einem Auftrag an die wirklichen Mächte
von ihren Lesern nicht nur andauernd vollzogen, sondern
unmittelbar gefühlt, i.e. ohne den Umweg einer
theoretischen Reflexion total geteilt wird, hält also
ihre ziemlich komplexen und kein bisschen
selbstverständlichen polit-moralischen Urteile per se für
allgemein-menschliches Gefühl, quasi für eine
anthropologische Grundkonstante. Und darum beauftragt sie
sich damit, diese Urteile gleich im Modus des Gefühls zu
präsentieren, nämlich in Form von Bildern, die
ihr als die passende Darreichungsform dafür vorkommen,
weil die nach allen Erkenntnissen der Wissenschaft auf
direktem Wege dahin zielen, wo Bild die westlich-patriotische
Gesinnung als Naturausstattung des Gattungswesens
‚Mensch‘ wähnt: im Stamm- oder Eidechsenhirn
. Und
so serviert sie Tag für Tag sich als Abbild
der Realität
– immer gemäß dem, wozu die Bilder
uns
ihrer Meinung nach jeweils aktuell
mahnen
, und immer getreu dem Ethos, dass der
Verstand des Lesers nur der schlechte Umweg – wenn nicht
gar gleich nur ein Abweg – zu dem Resultat ist, auf das
es ihr bei seinem Gebrauch ankommt: die an der national
vorgegebenen Sortierung von Freund und Feind
ausgerichtete Begutachtung der globalen Gewaltaffären
nach Recht und Unrecht, Vergehen und Strafe, unschuldigen
Opfern und schuldigen Tätern, die vom eigenen Staat mit
seiner Gewalt zur Rechenschaft gezogen werden müssen.
Und wenn in ausländerfeindlichen Internet-Blogs das exakt
gleiche Foto des kurdischen Kindes kein nach westlicher
Militärgewalt rufendes Entsetzen, sondern Begeisterung
darüber hervorruft, dass die Gewalt da im Prinzip die
Richtigen, weil die minderwertigen Ausländer trifft, die
uns überfremden? Dann entlarvt sich für Bild nicht ihr mit Versatzstücken
akademischer Theorien ausgepinselter
Manipulationsautomatismus als haltlos. Vielmehr entlarven
sich diejenigen, bei denen sich ganz andere
nationalistische Gefühlsanwandlungen regen; denn wer
angesichts dieses Bildes die einzige Regung nicht fühlt,
die es in einem Menschen
doch zwangsläufig
hervorruft, beweist, wie unmenschlich
– also ganz
aus unserer nationalen guten Art geschlagen – er ist.
Also doch keine Eidechse?