Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Betriebsbesichtigung mit der Frankfurter Sonntagszeitung
Moderne Arbeitsplätze – und Arbeiter, wie man sie braucht

Am Ende der Legislaturperiode, kurz vor der Wahl, wirbt die Kanzlerin höchstpersönlich mit den Erfolgen ihrer Regierungstätigkeit:

„Es waren vier gute Jahre für Deutschland, ... 1,9 Millionen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse ... als 2009, darunter 1,2 Millionen Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse, die Frauenerwerbstätigkeit hat ebenfalls zugenommen. 700 000 mehr Menschen im Alter von 60 bis 65 sind noch in Arbeit.“

Wie solche Arbeitsplätze aussehen, die von der Regierung als Segen für Deutschland gefeiert werden, hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vorgeführt. Sie lässt das sonntäglich gestimmte Publikum hautnah teilhaben am Arbeitsalltag der Bandarbeiterin Lissi – keine „prekär“ Beschäftigte, sondern langjährige Stammarbeiterin, Vollzeitkraft und sozialversicherungspflichtig angestellt.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Betriebsbesichtigung mit der Frankfurter Sonntagszeitung
Moderne Arbeitsplätze – und Arbeiter, wie man sie braucht

Am Ende der Legislaturperiode, kurz vor der Wahl, wirbt die Kanzlerin höchstpersönlich mit den Erfolgen ihrer Regierungstätigkeit:

„Es waren vier gute Jahre für Deutschland, ... 1,9 Millionen mehr sozialversicherungspflichtige Beschäftigungsverhältnisse ... als 2009, darunter 1,2 Millionen Vollzeitbeschäftigungsverhältnisse, die Frauenerwerbstätigkeit hat ebenfalls zugenommen. 700 000 mehr Menschen im Alter von 60 bis 65 sind noch in Arbeit.“

Wie solche Arbeitsplätze aussehen, die von der Regierung als Segen für Deutschland gefeiert werden, hat die Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung vorgeführt. Sie lässt das sonntäglich gestimmte Publikum hautnah teilhaben am Arbeitsalltag der Bandarbeiterin Lissi – keine „prekär“ Beschäftigte, sondern langjährige Stammarbeiterin, Vollzeitkraft und sozialversicherungspflichtig angestellt. Was die Arbeiterin, die von der FAS interviewt wird, über ihr „Beschäftigungsverhältnis“ zu erzählen hat, geben wir auszugsweise wieder:

An der Maschine: Ich mache die Arbeit wie im Traum

Lissi arbeitet an der Maschine und macht jeden Tag dieselben Bewegungen. Seit 13 Jahren verpackt sie Gewürze in Beutel. Im Interview erzählt sie von Verantwortung und Gedanken gegen die Langeweile:

Man hat mir gesagt, dass Sie mit mir reden wollen, weil ich an einer Maschine arbeite. Das verstehe ich nicht.

Mich interessiert, wie es ist, wenn man den ganzen Tag an einer Maschine steht und dieselbe Bewegung machen muss. Sie können mir das vielleicht erklären, da Sie seit 13 Jahren bei einem Gewürzhersteller die Maschinen bedienen.

Ich bediene sie nicht, ich führe sie. Ich bin Maschinenführerin.

Okay.

Sie stellen sich sicher vor, dass ich nur stupide Arbeit mache.

Eigentlich stelle ich mir noch gar nichts vor.

Die Arbeit ist nicht nur stupid. Für jeden neuen Auftrag muss ich die Maschine selbständig einstellen, den Takt, wie viel Gramm die Waage pro Takt abgeben muss, welches Einfüll- und Ablaufdatum auf die Packung gedruckt wird – da darf mir kein Fehler passieren.

Sonst?

Sonst komme ich nicht auf meine Leistung. Wenn zum Beispiel die Waage das Gewürz zu früh in die Beutel abwirft, auch wenn es nur Millimeter sind, geht vieles daneben. Bis das korrigiert ist, vergeht viel Zeit. So schaffe ich meine 500 Kartons nie.

Ihre Leistung sind 500 Kartons?

Ja, ich fülle im Schnitt pro Tag 500 Kartons mit Beuteln. Am schönsten ist es, wenn die Maschine rennt und ich mit dem Takt mithalten kann. Dann muss ich an nichts mehr denken, nur noch an meine Leistung.

Wie beginnt Ihr Tag?

... Am liebsten habe ich die Nachmittagsschicht von 13.45 Uhr bis 21.25 Uhr. Danach bin ich zwar auch kaputt, aber nie so tot wie nach der Frühschicht. Ich weiß nicht, woran das liegt. Nach der Frühschicht erwarte ich noch etwas vom Tag. Vielleicht fällt es mir deshalb besonders auf, wie tot ich bin. Nach der Nachmittagsschicht erwarte ich nichts mehr. Meistens gehe ich, ohne zu essen, ins Bett.

Wie beginnt Ihr Arbeitstag, wenn Sie Nachmittagsschicht haben?

... Der Vorarbeiter teilt uns dann auf die Maschinen auf. Die 30 und die 60 sind meine Lieblingsmaschinen. Dort wird die Ware in Beutel abgefüllt. Ich muss die Beutel kontrollieren und in Kartons verpacken.

Warum mögen Sie die 30 und die 60?

Das sind die einzigen Maschinen, bei denen ich noch ein bisschen rumlaufen kann. Hin und wieder muss ich auf das obere Plateau steigen und Ware nachfüllen. Es ist wichtig, sich zu bewegen. Wenn du immer auf einem Fleck stehst, schwellen dir die Beine an.

Welche Bewegungen und Handgriffe müssen Sie an der 30 machen?

Entschuldigung, aber wollen Sie das wirklich alles wissen? Das ist doch langweilig.

Finden Sie es langweilig?

Na ja, es braucht schon Übung, jeder hat sein eigenes System. Aber für Sie ist das alles nicht interessant.

Immerhin verbringen Sie Ihr Leben damit.

Wissen Sie, die ersten Tage dachte ich auch: Hier bleibe ich nicht lange. Sie standen wie Roboter an ihren Maschinen, schauten nicht links und rechts. Und als es läutete, rannten alle in die Pause oder zurück zu den Maschinen. Mir kam es vor wie im Kommunismus.

Trotzdem sind Sie geblieben.

Ich habe mich daran gewöhnt. Ich bin 57, was bleibt mir anderes übrig? Nach 13 Jahren ist die Arbeit ein Teil von mir. Sie ist mein Leben, da haben Sie schon recht.

Warum glauben Sie, dass das für mich und die Leser nicht interessant sein könnte?

Vielleicht weil es für Außenstehende so deppert aussieht. Mir ging es in den ersten Tagen hier ja auch so. Vielleicht denken Sie: Wie hält man diese Arbeit bloß aus?

Das denke ich manchmal auch über meinen eigenen Job. Oder über den Job von manchem Manager. Was meinten Sie, als Sie sagten, dass jeder sein eigenes System hat?

Jeder von uns hat eigene Handgriffe und Bewegungen, um die Arbeit so schnell wie möglich zu erledigen. Ich zum Beispiel lege nicht jeden Beutel, den ich kontrolliert habe, einzeln in den Karton. Ich fädle die Beutel zwischen den Fingern meiner Linken auf, meistens schaffe ich fünf bis zwölf. Dann drücke ich die Beutel sanft gegen meinen Körper und streiche mit der Rechten drüber, um sie in eine schöne Linie zu bringen. So passen sie am besten in den Karton.

Sie haben schöne, große Hände.

Ich habe gute Hände, ja.

Hat Ihnen dieses System jemand beigebracht?

Jeder muss das selbst für sich herausfinden. Die Körper der Menschen unterscheiden sich. Mein System wäre für jemanden mit kleinen Händen nicht zu gebrauchen.

Haben Sie lange gebraucht, um Ihr System zu entwickeln?

An meinen ersten Tagen hier ließen sie die Maschine extra langsam laufen. So hatte ich Zeit, mir ein System zu überlegen. Irgendwann geht es über ins Blut. Das ist ein schöner Moment, weil man dann die Maschine bezwungen hat.

Sie mögen die Maschine nicht besonders?

Es ist nicht so, dass ich sie nicht mag. Wir sitzen ja im selben Boot. Wenn die 30 wieder einmal Schwierigkeiten macht mit der Waage, schimpfe ich mit ihr: Du bist aber ein schlimmes Luder. Aber ich bin nie zu streng, weil sie noch ein Baby ist. Sie muss auch noch lernen. Wenn sie rennt, lobe ich sie. Irgendwie rede ich immer mit ihr.

Wie ist es, tagein und tagaus dieselben Handgriffe zu machen?

Schlimm sind die Verspannungen, die dann zu Kopfweh führen. Aber mit einer Massage geht das wieder.

Wird Ihnen nie langweilig?

Ich denke nicht darüber nach.

Worüber denken Sie denn nach, während Ihre Hände arbeiten?

Ich bin stolz, meine Arbeit zu können. Ich liefere gute Qualität, mir kann niemand was vormachen. Das erreiche ich nur, weil mir die Arbeit nicht wurscht ist. Ich mache meine Arbeit wie im Traum, völlig automatisch. Trotzdem schweife ich niemals mit meinen Gedanken ab.

Das glaube ich Ihnen nicht. Die Gedanken kann man ja nicht einfach einsperren.

Ich bin nicht der Typ, der seine Gedanken schweifen lässt.

Ich wollte Sie nicht verletzen. Die Gedanken schweifen zu lassen heißt ja nicht gleich, dass einem die Arbeit wurscht ist.

Gut, bei ganz stupider Arbeit wie Safran abfüllen wird mir tatsächlich ganz fad. Da verschwimmt mir alles vor Augen. Ich will gar nicht sagen, welche Gedanken ich durch meinen Kopf jage, damit die Zeit schneller vergeht.

Das müssen lustige Gedanken sein, so wie Sie lachen. (Lissi hält sich den Bauch vor Lachen)

Ich stelle mir vor, dass jeder Beutel mein Kind ist. Ich gebe Ihnen Namen, zuerst alle Namen, die mit dem Buchstaben E beginnen. Und so weiter, bis ich das ganze Alphabet durch habe. Danach stelle ich mir vor, dass die Beutel Schulkinder sind, die auf Klassenfahrt gehen, und ich muss ihnen Proviant mitgeben. Ich bringe alle Lebensmittel durch, bis mir nichts mehr einfällt und ich scharf nachdenken muss.

Wie geht es Ihnen, wenn Sie nach so einer Schicht nach Hause kommen?

Wie immer gehe ich, ohne zu essen, ins Bett. Aber nach so einer Schicht werde ich nachts oft wach ...

(FAS, 15. 9.13)

*

So sieht sie also aus, die hochgelobte sozialversicherungspflichtige Vollzeitbeschäftigung: Stundenlanges Aushalten stupider Handgriffe, angepasst an das vorgegebene Maschinentempo, das ganze Leben reduziert auf die trostlosen Alternativen, die der Schichtplan festlegt. Das Interview zeichnet anschaulich das Bild einer Arbeit, die sich niemand freiwillig aussucht.

Was allerdings überhaupt nicht vorkommt, ist der Grund, warum solch miese Arbeitsverhältnisse sein müssen – und zwar massenhaft. Nun ist es nicht so, dass der der FAS-Redaktion oder sonst wem in der Nation nicht bekannt wäre: Solche Arbeitsplätze gibt es, weil ein kapitalistisches Unternehmen damit einen Gewinn erzielen will. Darauf kommt es an, das ist das maßgebliche Interesse und der Zweck der ganzen produktiven Tätigkeiten hierzulande, und der ist – nicht nur der FAS-Redaktion – so selbstverständlich, dass darüber kein einziges Wort verloren werden muss bei einem authentischen Ausflug in die Welt der Arbeit.

1.

Für ihr Bereicherungsinteresse lassen Kapitalisten arbeiten, damit die Arbeit, die sie einkaufen, einen Überschuss erwirtschaftet. Nur dafür und nur solange dieses Interesse bedient wird, wird hierzulande überhaupt gearbeitet – nur rentable Arbeit oder keine. Dieser Zweck beherrscht die Produktion, die Arbeit sieht entsprechend aus: Mit dem Einsatz von Maschinen sorgen die Herren des Produktionsprozesses dafür, dass die Arbeit, die daran verrichtet wird, das höchstmögliche Produktivitätsniveau in ihrem Sinne – eben dem der Rentabilität – gewährleistet: niedrige Lohnkosten pro Stück. Für diesen Anspruch auf rentable Arbeit werden die Errungenschaften von Wissenschaft und Ingenieurskunst eingesetzt. Diesem Zweck entsprechend ist alle Produktivität der Arbeit in der Maschinerie vergegenständlicht. Das hat Folgen für die Arbeit. Durch den kapitalistisch zweckmäßigen Einsatz der Maschinerie wird zwar Arbeit erspart, aber dem Arbeiter wird damit nichts erspart, im Gegenteil. Was als Wissen, Geschicklichkeit und Kraftersparnis in der Maschine existiert, tritt ihm als Zwang zur kontinuierlichen, möglichst schnellen, pausenlosen und einseitigen Verausgabung gegenüber. Die Vereinfachung der Arbeit durch die Maschinerie und die Zergliederung des Arbeitsprozesses in Teilschritte sind nichts anderes als Mittel dafür, den Zwang zum dauerhaft größtmöglichen Arbeitstempo als vorgegebenen Maschinentakt zu etablieren. Die Arbeit wird auf das Bedienen und Überwachen der Maschinerie reduziert; so ist mit der technischen Organisation der Produktion quasi als Sachzwang sichergestellt, dass nichts anderes abgeliefert wird als Arbeitsleistung pur: Stück pro Zeit. Nur so kommen sie zustande, die „500 Kartons“ in einer Schicht. Diesem Regime hat sich die Arbeit zu unterwerfen. Sie wird zum Anhängsel der Maschine degradiert, um die Leistung zu erbringen, die dem Unternehmer seinen Gewinn sichert.

2.

Der sachliche Inhalt der so organisierten Arbeit – die Art, wie sie verrichtet wird, und das Produkt selber – geht den Arbeiter, der sie verrichtet, nichts an. Deshalb ist an modernen Arbeitsplätzen eine Qualifizierung eigener Art verlangt, die physische und geistige Bornierung nämlich, sich voll und ganz auf die Aufgabe zu konzentrieren, pures Anhängsel des Maschinentakts zu sein. Sich diesem Arbeitsprozess zu unterwerfen, darin haben Subjektivität, Verstand und Wille der Lissis der modernen Arbeitswelt aufzugehen. Verlangt ist also, an sich alles auszuschalten, was den reibungslosen Ablauf des Produktionsprozesses stören könnte; sich als Automat herzurichten, der wartungsfrei im Einklang mit der Maschine läuft, wird zur dauerhaften Aufgabe. Die Reduktion der Tätigkeit auf wenige, immer gleiche Handgriffe macht den Einsatz von Willen und Verstand nämlich keineswegs überflüssig – im Gegenteil. Gefordert ist nicht nur die ununterbrochene Konzentration zur Vermeidung von Fehlern, verlangt ist vor allem eine spezielle Herrichtung des Geistes: An nichts anderes als an eine Arbeit denken, die dem Verstand keinen Inhalt zu denken gibt – diesen Widerspruch gilt es zu bewältigen. Dafür wird der Geist in einer doppelten Weise beansprucht: er hat sich bei aller Monotonie der Tätigkeit mit etwas zu beschäftigen, ohne von der Konzentration auf die verlangten monotonen Handgriffe abzuschweifen. Hier ist die Leistung der Phantasie gefragt, sich Arbeitsinhalte zu fingieren. Wobei die Tagträumerei allerdings nicht allzu weit von der Mechanik der Tätigkeit, die man koordiniert durchführen muss, entfernt sein darf. Kein Wunder, dass Lissis Abwechslung im Wesentlichen aus der Vorstellung von langen Namens- oder sonstigen Listen in alphabetischer oder nicht-alphabetischer Reihenfolge besteht. In dieser Geistesanstrengung eigener Art geht die Individualität im Arbeitsleben auf.

3.

Keine Frage, so eine Arbeit und so ein Leben sucht sich keiner freiwillig aus. Interessiert an solcher Arbeit sind die Lissis dieser Welt dennoch. Was sie mit dem Arbeitsplatz verbindet, ist einzig ein Interesse – das Interesse an Geld. Und die Art ihrer Arbeit zeigt auch, wie dieses Geldinteresse beschaffen ist – Arbeiten dieser Art nimmt man nur aus Geldnot an. Dass Lissi ihr Interesse am Geldverdienst nunmehr seit 13 Jahren ununterbrochen einen Job machen lässt, den sie zu Beginn ihrer Tätigkeit für mindestens so schlimm „wie Kommunismus“ hielt – also so ungefähr das Schlimmste, was sie sich auf dieser Welt vorstellen kann –, bezeugt darüber hinaus, dass die Geldnot, die Arbeiter an solche miesen Arbeitsplätze zwingt, durch ihre Arbeit keinesfalls behoben, sondern durch die Bewältigung des aktuellen Geldbedarfs reproduziert wird. Ihre Mittellosigkeit ist also beides: Ausgangspunkt und Ergebnis der Arbeit.

Der banale, allgemein bekannte Grund dafür wird in dem Interview mit keinem Wort erwähnt: Arbeit kann nie billig genug sein, wenn sie sich für das Unternehmen rentieren soll. So sorgt der Lohn stets neu für das Interesse, den Lebensunterhalt im Dienst an fremdem Eigentum zu verdienen. Damit sind diejenigen, die rentable Arbeit verrichten, lebenslang unter diese Sorte Arbeit subsumiert.

4.

Dass einer alles tut, um sich an diese Sorte Arbeitsplätze anzupassen, ist eine Sache – schließlich muss man die Sache irgendwie aushalten und durchstehen, wenn man keine andere Chance hat, seinen notwendigen Lebensunterhalt zu verdienen.

Dass jemand, der einen solchen Arbeitsplatz aushalten muss, ausgerechnet diesen miesen Arbeitsplatz gegen alle Welt verteidigt, ist eine ganz andere Sache. Lissi bietet ein beeindruckendes Beispiel dafür, wie man den ziemlich unbekömmlichen Charakter seiner Arbeit ohne Beschönigung zu Protokoll geben und ihn gleichzeitig dementieren kann: Sie beschreibt ihre Anstrengungen als Anhängsel der Maschinen und legt Wert darauf, „Maschinenführerin“ zu sein. Und wenn ihr dabei eine Leistung abverlangt wird, die in der arbeitsfreien Zeit nur noch die Alternative zwischen kaputt oder tot zulässt, dann ist ihr gerade die Härte der Anforderungen, die sie immerhin meistert, der Beweis der eigenen Leistungsfähigkeit, auf die sie stolz ist und für die sie Anerkennung verdient. Denn zu einer Pflicht, deren Erfüllung nicht jeder so aushält wie sie, erfindet sie sich eine besondere persönliche Befähigung hinzu, ganz so als hätte sie sich ihre Arbeit selbst ausgesucht. Konsequent nimmt Lissi als beispielhafte Lohnarbeiterin Kritik an ihrer Arbeit als verächtliches Urteil über die eigene Person, das sie nicht auf sich sitzen lassen will. Sie hat sich entschlossen, sich dergestalt mit ihrer Arbeit zu identifizieren, dass sie eben das ist, was ihre Arbeit aus ihr macht, weshalb sie sich selbst verteidigt, wenn sie sich gegen Kritik an ihrer Arbeit verwahrt.

Das Muster der Betrachtungsweise, mit der sie es hinbekommt, mit sich und ihrem Arbeitsleben einverstanden zu sein, ist denkbar einfach. Es folgt der Logik: Wenn meine Existenz sich schon nicht nach meinen Bedürfnissen richtet, dann richte ich meine Bedürfnisse nach meiner Existenz! Auf diese trostlose Art rettet man als geschädigtes Individuum seinen Materialimus: indem man ihn so umdefiniert, dass er am Ende durch die Umstände, denen man nun einmal unterworfen ist, schon – wenigstens irgendwie – bedient ist.

Nützlich ist diese Sorte Selbstbetrug allein für die andere Seite, für das Geschäftsinteresse, das solche Arbeitsplätze einrichtet: Wenn die Lissis dieser Welt sich um ihrer selbst willen jede Kritik an ihrer Arbeit verbitten, wenn sie ihre Leidensfähigkeit zum Grund und Gegenstand ihres ganz persönlichen Stolzes machen und als eingebildete Herren ihrer Existenzbedingungen getreu das erledigen, was man von ihnen verlangt – dann haben sie ihre praktische Unterordnung unter das Regime von Lohn, Preis und Profit auch noch um den passenden Selbstbetrug komplettiert.

5.

Das gefällt der FAS bei ihrer Besichtigung der Arbeitswelt. Wo die Betroffene mit ihren Dementis ein Zeugnis ihres angestrengten Bekenntnisses ablegt, die eigene Lebenslage schön zu reden, ergreift dieses Blatt die Gelegenheit, gelungene geistige Unterwerfung als vorbildlichen Charakterzug zu würdigen. Ungeschönt gibt es Lissis Lebenslage wieder und verteilt Komplimente dafür, dass sie eine Arbeit – die kein FAS-Redakteur auch nur im Traum für sich und seinesgleichen auch nur für eine Sekunde für akzeptabel halten würde –, nicht nur tut, sondern sich auch die dazu passende Moral zugelegt hat. Dieses Bemühen, das Unvereinbare partout ideell als vereinbar zu behaupten, als Lebenslüge zu durchschauen und kaltlächelnd gut zu heißen, ist Zynismus. Und den beherrscht die Interviewerin von der FAS ganz lässig. Wenn sie zum Beispiel damit kokettiert, dass sie sich durchaus – quasi von „Job-Inhaber zu Job-Inhaber“ in Lissis Lage hineinversetzen kann – von wegen „depperter Job“ und so – , dann ist das zwar eine ausgemachte Heuchelei. Der Unterschied zwischen ihrem Zeitungsjob und Lissis Job ist ihr garantiert nicht entgangen; ebensowenig wie der zwischen den Meistern der Maschinenbedienung und Managern, die darüber Regie führen. Das dient der FAS aber gerade deswegen umso mehr zur Untermauerung des Kompliments an Lissi für ihre gelungene Bewältigung der Anforderungen, die in ihrer Arbeitswelt an sie gestellt werden.

*

Die Leser haben diese gute Nachricht wohl verstanden. Sie teilen die von der FAS von oben herab spendierte Bewunderung für die untertänigen Arbeiter:

„Die Lissi ist (…) eine wunderbare Arbeiterin! (…) fleißig und pflichtbewusst macht sie ihre eintönige Arbeit (…) Ich habe tiefe Hochachtung für sie.“

Hut ab und Respekt vor Leuten, die mit solch einem Leben fertig werden. Und wenn eine Vertreterin der Unterklasse in lockerer Art dieses Loblied auf Stolz und Durchhaltemoral noch selbst beglaubigt, dann druckt die FAS diese Bekenntnisse sehr gerne auch als längeren Leserbrief ab:

„Hey, ich wollte auch mal unsere Seite hier vertreten. Ich gehöre auch zu dieser Arbeiterschicht, und kann es total verstehen, dass sie da mit den Maschinen spricht. Mach ich mit meiner 5 auch. Habe mich nur totgelacht, wirklich den Nagel auf den Kopf getroffen. Es kann nur eine geben. Die Maschine oder Du, und meistens besiegt man sie und puscht sich selber zu noch mehr hoch. Wir lieben und hassen uns sozusagen.“ (Leserbriefe im FAZ-online-forum)

Wenn diejenigen, die diese Arbeit machen, selbst jede Kritik an den Arbeitsverhältnissen, in die sie gestellt sind, zurückweisen und es sich hoch anrechnen, dass sie alles aushalten und gegen sich durchsetzen, was von ihnen verlangt wird, dann verdienen sie sich bei der FAS und deren Lesern zynische Bewunderung – und ehrliche Wertschätzung: als Kronzeugen für den militant antikritischen Schwindel, dass jede Kritik an miesen Lebensverhältnissen, und erst recht an deren Ursachen, die Ehre derer verletzt, die sie aushalten müssen. Und wenn den Betroffenen selber zu ihrer Lebenslage nichts Besseres einfällt als Stolz darauf, sie zu bewältigen, dann steht den Erfolgsmeldungen der Kanzlerin nichts mehr im Wege. Dann stehen der Nation und ihren Insassen sicher wieder vier gute Jahre für Deutschland ins Haus.