Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Armutsbericht der Bundesregierung – Der hat uns grade noch gefehlt

Der Armutsbericht dokumentiert die – zunehmende – Armut derjenigen, die zum Leben auf Arbeit angewiesen sind. Die Armut interessiert unter dem Gesichtspunkt, ob bei den Armen auch alles in geordneten Bahnen oder aus dem Ruder läuft. Resultat: Kein Grund zur Besorgnis.

Aus der Zeitschrift

Der Armutsbericht der Bundesregierung – Der hat uns grade noch gefehlt

Endlich ist sie da: Die erste höchstoffizielle nationale Armutsberichterstattung. Ihre verblüffende Erkenntnis: „Die Unterschiede in der Verteilung der Vermögen in Deutschland sind beträchtlich“. Demnach besitzt ein Zehntel der Bevölkerung über 42 Prozent des Privatvermögens, wohingegen sich die unteren 50 Prozent aller Haushalte mit nur 4,5% des Vermögens bescheiden müssen. Auf circa 13000 verdoppelt hat sich die Zahl der „Einkommensmillionäre“. Dort gibt es ein „durchschnittliches Einkommen“ von „3 Millionen Mark“ zu verbuchen. Ungefähr genauso viele Millionen findet man auch beim Rest der deutschen Haushalte – allerdings nicht Mark, sondern Sozialhilfeempfänger. „Sparguthaben“ schwanken „im Durchschnitt“ zwischen rund einer halben Million beim „oberen Drittel“ der Bevölkerung (es soll sogar Leute geben, die auf einmal ein ganze Million auf einem ihrer Konten finden und dann nicht so ganz genau wissen, wo die nun hingehört – doch dies nur nebenbei: Ein kleiner Scherz!) und knapp 8000 Mark bei der „unteren Hälfte“. „Das Geld ist höchst ungleich verteilt“ – wer hätte das gedacht? Kaum unterhält man einen kapitalistischen Klassenstaat, beschert den einen ein wirtschaftsverträgliches „Einkommen“ im Dienst an fremdem Reichtum, dessen Höhe im Verhältnis zu den Lebensnotwendigkeiten dafür garantiert, dass es Monat für Monat aufgebraucht wird; verordnet denen ohne Arbeit einen minimalen Unterhalt aus sparsam gehandhabten sozialen Kassen; und versorgt wieder andere mit allen standortfördernden Bedingungen zur Vermehrung ihres Geldes – und schon sind Arbeiter arm, Sozialhilfeempfänger ärmer, und einige „obere Haushalte“ verdienen „über Durchschnitt“. Das „Ausmaß relativer Einkommensarmut“ hat seit 1973 „beständig“ zugenommen. Na, so was! Besonders „bedenklich“ ist dabei die „zunehmende Armut unter Erwerbstätigen“. Merkwürdig: Kaum korrigiert man das bekanntermaßen viel zu „hohe deutsche Lohnniveau“ nach unten, schon werden die Leute „einkommensarm“; kaum richtet man der deutschen Wirtschaft einen „Billiglohnsektor“ ein, schon tun sich Lohnabhängige mit dem allfälligen „Einteilen müssen“ schwer und schwerer. Dann „überschulden“ sie sich auch noch – und die Zahl der rettungslos in der Kreide stehenden „deutschen Haushalte“ steigt „zwischen 1994 und 98 um über 30 Prozent“. Dabei sind gute 20 Prozent aller „Normalverdiener“ sowieso schon „arm“; ein weiteres Drittel „schwebt in ständiger Gefahr“, durch diverse „Wechselfälle“ des Lebens „in Armut abzurutschen“. So „wechselhaft“ sind diese „Wechselfälle“ eben auch gar nicht: Wie der Armutsbericht zu vermelden weiß, bedarf es keiner besonders ausgefallenen Zutaten, um „deutschen Lebenslagen“ den Antritt einer Karriere nach unten zu bescheren. Da genügt schon einer der vielfältigen Gründe, die einen Anwender von Lohnarbeit dazu veranlassen, das Arbeitsverhältnis und damit das Einkommen zu beenden. Von einer übermäßigen Entwicklung körperlicher Gebrechen, einer Ehescheidung oder der Geburt eines Kindes ist dringend abzuraten, weil alles dies die Schritte eines „durchschnittlichen“ Bundesbürgers unaufhaltsam in die „relative Armut“ lenkt. Überhaupt: Kinder! Sie sind nicht nur das „größte Armutsrisiko“, sondern stellen selber auch die „größte Gruppe der Sozialhilfeempfänger“. Die „Analyse“ zeigt, dass ihre Armut „vielfach eine Folge der geminderten Erwerbs- und Einkommenschancen ihrer Eltern“ ist. In den anderen Fällen sind sie wahrscheinlich einfach arm geboren und haben nichts dazu verdient.

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Und warum erzählt der Staat uns das alles? Schließlich wollen da ja nicht Anhänger einer Irrlehre namens „Verelendungstheorie“ – wir kennen sie ja, die „Alt-68er“ – den produktiven Gegensatz, der ohne Verelendung nie zu haben war, zur Anschauung bringen und auf die Abschaffung dieser Verhältnisse dringen. Der Bericht über „Lebenslagen in Deutschland“ ist die – seit kapitalistischen Urzeiten in unregelmäßigen Abständen immer wieder einmal – von oben angestellte interessierte Betrachtung und Beschreibung der Lage der arbeitenden Klasse: Verbürgt deren Lage noch Tauglichkeit und Loyalität, bzw. Tauglichkeit zur Loyalität? Wieweit können die notorisch Armen ihre Aufgaben und staatsbürgerlichen Pflichten noch erfüllen? Wirft die ‚soziale Frage‘ Ordnungsprobleme auf? Gibt es Anlass zu Sorge, wenn größere Teile der Bevölkerung zum Beispiel des „Armutsrisikos“ wegen das Kinderkriegen einstellen und damit ihrer Pflicht, sich als Keimzelle des Staates zu bewähren, nicht mehr ordentlich nachkommen? Oder lässt sich die Sache mit 30 Piepen Kindergeld mehr im Monat auch schon wieder „steuern“ und auf den richtigen Weg bringen? Für was taugt ein Arbeiter, der selber schon „Sozialfall“ ist, und für was ein Sozialfall, der nicht arbeitet? Befindet sich die „Überschuldung deutscher Haushalte“ noch im „statistisch erträglichen“ Maß, oder läuft da etwas aus dem Ruder, das man am Ende nicht mehr „steuern“ kann?: Das sind so die herrschaftlichen Gesichtspunkte, unter denen die Armut besichtigt wird. Auf 300 Seiten, streng wissenschaftlich ausgeführt mit Schaubild, Statistik und Querverweis, zeigt so ein Bericht, was die kapitalistische Wirtschaft so alles zu Wege bringt. Ihre regierenden Führungsleute sind sich dessen voll bewusst, lassen sogar einen Lagebericht verfassen und nehmen die Ergebnisse zur Kenntnis. Und sie entdecken in dem voluminösen Material nicht den geringsten akuten Handlungsbedarf. Oder umgekehrt: Der ganze Handlungsbedarf, den Armut heute in der Republik aufwirft, ist der, sie staatlicherseits genau zu beäugen. Das ist dann auch der ganze Ertrag des Armutsberichts: Die Regierung teilt der Öffentlichkeit mit, was sie alles zu verwalten hat – und dass sie diese Aufgabe nicht vernachlässigt.