Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Jeden Monat neue Gründe für die Arbeitslosigkeit

Arbeitslosenzahlen werden politisch interpretiert: „trotz“ Wirtschaftswachstum gehen die Arbeitslosenzahlen wegen „Sommer“, „gespaltener Konjunktur“ und rückläufiger Arbeitsförderungsmaßnahmen nicht zurück. Eine Trendwende kann aber nicht ausgeschlossen werden.

Aus der Zeitschrift

Jeden Monat neue Gründe für die Arbeitslosigkeit

Wie jeden Monat tritt der Chef der Bundesanstalt für Arbeit auch im September vor die laufenden Kameras und zelebriert die Verkündung der aktuellen offiziellen Zahl der Arbeitslosen für den vergangenen Monat. Der Stand im August 97 lautet: 4,37 Millionen; oder, um ganz genau zu sein: Es handelt sich um 4372058 Einzelschicksale.

Mit dieser Mitteilung läßt der hauptamtliche Chef der Arbeitslosen-Statistik die interessierte Öffentlichkeit nicht alleine. Die Zahl wird kommentiert und analysiert, damit sie auch niemand falsch versteht.

Erstens ist festzuhalten, daß es sich bei dieser – im Vergleich zum Vormonat und im Vergleich zum August des Vorjahres, ja im Vergleich zu so ziemlich sämtlichen August-Monaten der Republik – wieder gestiegenen Zahl um einen traurigen Rekord handelt. Nein, niemand ist froh darüber, daß schon wieder mehr Leute entlassen als neu eingestellt worden sind. Am wenigsten die Bundesanstalt: Die gibt sich alle Mühe, die Arbeitslosen zu verwalten; im Rahmen ihrer finanziellen Möglichkeiten tut sie ihr Bestes, legt Arbeitsförderungsmaßnahmen auf, finanziert Lohnzuschüsse zur Förderung der Anstellung von Langzeitarbeitslosen, ist überhaupt tagaus tagein mit nichts anderem beschäftigt als mit dem Problem der Arbeitslosigkeit; und doch ist es wieder anders gekommen als gehofft. Aber auch für den Rest der Gesellschaft gilt: Nicht bloß die Betroffenen – wir alle sind schwer betroffen von der Entwicklung. Vor allem alle diejenigen, die sich die Verantwortung für das, was hierzulande passiert, um keinen Preis nehmen lassen, deswegen aber noch lange nicht für jeden gesellschaftlich verursachten Schaden zur Verantwortung gezogen werden wollen: Politiker, Unternehmer, Experten, Gewerkschaftler geben ihre tiefste Sorge über jenes Phänomen zu Protokoll, jenes Krebsübel unserer modernen Arbeitsgesellschaft, dem selbst die demokratisch berufenen Machthaber so offensichtlich machtlos vis-à-vis stehen…

Zweitens hört die Zuständigkeit der Zuständigen damit aber noch lange nicht auf. Insbesondere die Bundesanstalt für Arbeit kann an den Ursachen der massenhaften Arbeitslosigkeit zwar überhaupt nichts ändern; sie weiß aber haargenau darüber Bescheid. Nachdem sie jahrelang nicht das Geschäft, sondern den schlechten Geschäftsgang in unserer Marktwirtschaft dafür verantwortlich gemacht hat, stellt sie sich jetzt, wo nach offizieller Lesart die Konjunktur zunehmend an Fahrt gewinnt, die Frage, wo die Trendwende am Arbeitsmarkt bleibt?, und kann auch dieses Rätsel lösen:

„Angesichts boomender Exporte, voller Auftragsbücher, steigender Produktion und höherer Auslastung mag das enttäuschen. Doch der Arbeitsmarkt hat eigene Gesetze. Und in denen gelten die Sommermonate als kritisch.“

Wenn also trotz Aufschwung die Arbeitslosen nicht weniger, sondern mehr werden, dann spricht das nicht gegen die immer wieder beteuerte segensreiche, weil arbeitsplatzstiftende Wirkung eines knackigen Wirtschaftswachstums, sondern gegen den Sommer. Der Arbeitsmarkt hat eben seine eigenen Naturgesetze; und nach denen werden im Sommer – wegen Ferien und ähnlicher Naturgewalten – immer etliche tausend Leute entlassen. Da hilft es nur, nach einer guten alten Bauernregel auf den Herbst zu setzen:

„Ob sich der konjunkturelle Aufschwung auf dem Arbeitsmarkt auswirkt, wird sich also erst in den kommenden Monaten zeigen.“

Allerdings, mit der Natur ist nicht zu spaßen, deshalb sollte man seine Erwartungen nicht allzu hoch stecken. Denn erstens sind die Auftragsbücher noch lange nicht voll genug, um neue Arbeitsplätze zu rechtfertigen. Und zweitens muß festgehalten werden, daß, wenn schon die Sommermonate kritisch sind, der Winter zumindest nicht unkritisch ist, vor allem dann, wenn er womöglich zu früh kommt und zu spät geht:

„Jagoda wollte nicht ausschließen, daß die Arbeitslosigkeit bei einem extrem harten Winter über die Fünf-Millionen-Marke ansteigen könnte. ‚Wenn der Winter im Oktober anfängt und bis März dauert, kann ich gar nichts ausschließen‘ (Jagoda).“

Und wenn der Sommer dann von April bis September dauert – nicht auszudenken…!

Drittens muß man die ganze Sache aber differenziert sehen; dann relativiert sich selbst der traurigste Rekord. Die deutsche Konjunktur ist nämlich gespalten:

„Die kräftige Belebung der Auslandsnachfrage kommt in erster Linie dem Westen mit seinem Exportanteil von mehr als 30 Prozent zugute. Dagegen schlägt im Osten voll die lahmende Binnenkonjunktur am Bau zu Buche.“

Während im Westen also trotz boomender Exporte die Arbeitslosenzahlen zunehmen – was zwar nicht gerade eine Erklärung ist, aber fast wie eine solche klingt –, steigen sie im Osten aufgrund mangelnder Exporte. Und da viele der neu in die Statistik aufgenommenen Arbeitslosen den Rentabilitätsrechnungen von Bauunternehmern zu verdanken sind, handelt es sich bei diesen Entlassenen also quasi gar nicht um Arbeitslose im strengen Sinne, sondern um einen leicht erklärlichen Sonderposten, der speziellen Umständen geschuldet ist und insofern nur bedingt zu der Rekordzahl beiträgt…

Viertens muß die Angelegenheit noch in einer anderen Hinsicht differenziert gesehen werden:

„Der Anstieg der Arbeitslosenzahlen ist im Zusammenhang mit der geringeren Entlastung durch die Arbeitsmarktpolitik zu sehen.“

Bis neulich hat die staatliche Arbeitsmarktpolitik den Arbeitsmarkt durch Maßnahmen entlastet, die unsere marktwirtschaftlichen Experten in anderen Fällen sofort als bloß versteckte Arbeitslosigkeit durchschauen. Jetzt relativiert das Bekenntnis zur Schönfärberei von gestern den Rekord von heute: Der Teil der offiziell registrierten Arbeitslosen, der sich dem Wegfall von Arbeitsförderungsmaßnahmen verdankt, ist nicht als echter Zuwachs zu sehen, weil die Leute strenggenommen schon die ganze Zeit über arbeitslos waren. Die Arbeitslosenzahl ist folglich überhaupt nicht so stark gewachsen, wie man auf den ersten Blick denken könnte – man muß nur ein wenig positiv darüber nachdenken…

Fünftens kommt es in diesem Sinne vor allem darauf an, die Hoffnung nicht zu verlieren. Vermutlich zeichnet sich nämlich gerade jetzt

„bei aller Vorsicht in der Analyse für 1998 die langerwartete Wende am Arbeitsmarkt ab.“

Und wenn man bei Trendwende nicht immer nur borniert an Neueinstellungen denkt, ist sie gewissermaßen schon da – insofern, als der Stellenabbau die Talsohle erreicht hat. Zumindest ist doch nicht auszuschließen, daß er demnächst langsamer ansteigen könnte als bisher…

Sechstens schließlich muß allen notorischen Schwarzsehern einmal laut und deutlich gesagt werden: Es wurden schon Unternehmen gesichtet, die stellen bereits neue Leute ein – wenn sie mit ihren radikal „verschlankten“ Belegschaften einen aktuellen Auftragsboom nicht bewältigen:

„Derzeit liefert die Autoindustrie ein Beispiel dafür, daß neue Stellen geschaffen werden können.“ (Arbeitsmarktexperte Kohl)

Na also, es geht doch. Wir alle sind schon echt gespannt auf die Arbeitslosen-Statistik vom September.