Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Eine Neue beim Polittalk am Sonntagabend

Mitten im September wechselt die ARD eine ihrer „Frontwomen“ aus. Anne Will ersetzt Sabine Christiansen. Das allein reicht schon völlig aus, um die deutsche Öffentlichkeit zwei Wochen lang auf den Premierenabend hin fiebern zu lassen. Die hauseigene Vorberichterstattung des Senders setzt noch eins drauf: Der Abend werde „eine neue Gesprächskultur“ eröffnen, verspricht der ARD-Vorsitzende Raff, verstehe sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen doch gemäß dem aktuellen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Rundfunkgebühren als Bollwerk gegen den „Trend zur Massenattraktivität“ (BVerfG). Hohe Erwartungen also an verantwortungsvolles Elitefernsehen.

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Eine Neue beim Polittalk am Sonntagabend

Mitten im September wechselt die ARD eine ihrer „Frontwomen“ aus. Anne Will ersetzt Sabine Christiansen. Das allein reicht schon völlig aus, um die deutsche Öffentlichkeit zwei Wochen lang auf den Premierenabend hinfiebern zu lassen. Die hauseigene Vorberichterstattung des Senders setzt noch eins drauf: Der Abend werde eine neue Gesprächskultur eröffnen, verspricht der ARD-Vorsitzende Raff, verstehe sich das öffentlich-rechtliche Fernsehen doch gemäß dem aktuellen Urteil des Bundesverfassungsgerichts zu den Rundfunkgebühren als Bollwerk gegen den Trend zur Massenattraktivität (BVerfG). Hohe Erwartungen also an verantwortungsvolles Elitefernsehen.

Die Sendung: „Rendite statt Respekt – wenn Arbeit ihren Wert verliert“

Die versammelte Gesprächsrunde aus Wirtschaft, Politik und Kirche wird gleich zu Anfang mit dem Thema „Arm trotz Arbeit“ in Person einer Diplom-Bauingenieurin konfrontiert, die für 5 Euro die Stunde in einem Callcenter jobbt und nur mit staatlicher Aufstockungshilfe auf 1100 Euro netto kommt. Für deren missliche soziale Lage sind die anwesenden Herren Beck, Rüttgers und der Chef der Telekom Obermann die richtigen Ansprechpartner. Irgendwie werden die Leistungen des anwesenden Wirtschaftsführers – der gerade erst das Einkommen seiner Mannschaft um eine knappe Milliarde verringert hat und Tausende entlässt – und der beiden politisch Verantwortlichen für das, was so unter Hartz IV zusammengefasst wird, ja auch ursächlich mit der Lage der Kombilöhner aus dem Niedriglohnsektor zusammenhängen.

Für die geladenen Gäste allerdings ist die Gegenüberstellung mit einem ihrer Opfer mitnichten eine Provokation, sondern eine einzige Steilvorlage für die eigene Selbstdarstellung als „Verantwortungsträger“. Das geht so: Auf die Frage der Moderatorin: Haben Sie das gewollt? schiebt man als erstes eine Runde Betroffenheit - schlimm ... furchtbar und unerträglich ... und das bei uns in Deutschland. Die Arme mag an Geldmangel leiden, wir aber leiden mindestens genauso sehr, sogar ein wenig prinzipieller: Meiner Ansicht nach kann es nicht sein, dass jemand von seinem regulären Gehalt nicht mehr seine Existenz bestreiten kann. (Rüttgers) Ist aber so, also folgt zweitens: Je größer die persönliche Betroffenheit, umso dringlicher die eigene Zuständigkeit. Da muss etwas getan werden (Beck), und wir wissen auch schon von wem. Warum? Weil wir auch bisher schon zuständig waren. Unsere Verantwortung für diese bittere Realität spricht nämlich nicht gegen, sondern für uns: Der Vorsitzende der Arbeiterpartei in Nordrhein-Westfalen bin ich! (Rüttgers). Schon ist man beim Schulterklopfen für die bisher geleisteten Erfolge in Sachen Befreiung der Wirtschaft von Lohnkosten. Die Senkung des Einkommensniveaus hat unsere Konkurrenzfähigkeit verbessert, wodurch wir die Arbeitslosigkeit um 15 % senken konnten (Obermann). Die unangenehme Nachfrage, wer die übrigbleibenden 85 % Arbeitslosen eigentlich entlassen hat, muss der Mann an diesem Abend nicht befürchten. So ist die Verarmung unseres lieben Ehrengastes aus der arbeitenden Bevölkerung einsortiert in einen guten, weil höheren Zweck. Es geht nämlich wieder aufwärts mit der Wirtschaft in Deutschland, eben weil wir die Lohnkosten abwärts trimmen.

Also ruft drittens auch schon der Auftrag, auf jeden Fall in diesem Sinne weiter zu machen. Freilich, auf Gerechtigkeit beim Absenken des Lohnniveaus im Land soll man schon auch achten, sofern sie die staatlichen Kassen verschont, weil andernfalls die Gerechtigkeit ja gerechterweise wieder gegenfinanziert werden muss. Mehr als dieses staatliche Mindestmaß an Sicherheit (Rüttgers) ist einfach nicht drin, und mehr braucht es ja auch gar nicht, schließlich hat Hartz IV den Sprung von der Sozialhilfe in ein Beschäftigungsverhältnis erleichtert. (Obermann) Nach knapp fünf Minuten Sendezeit ist die Armut da, wo sie für die Macher, Verwalter und Betreuer des gesellschaftlichen Bodensatzes hingehört: Die rühmen sich dafür, wie gut dank ihrer gesetzgeberischen Erfindungsgabe die Sozialhilfe als Erpressungshebel gegen die Arbeitslosen funktioniert.

Kritisch abweichend und doch genauso zielführend der Dreisprung bei der Frau Landesbischöfin: „Fälle wie den der Diplomingenieurin erleben unsere Seelsorger vor Ort alle Tage, aber auch die Unzufriedenheit mit der Arbeitsbelastung lasse die Menschen vermehrt nach Spiritualität suchen. (Und das ist gut so: Wir wollen sie nämlich trösten, ohne nach den Ursachen zu fragen, geschweige denn sie als Einwand gegen die Verursacher zu missbrauchen.) Wir befürchten, dass das in Zukunft noch zunehmen wird. (Wir wissen nämlich, dass die Starken im Land schon dafür sorgen werden.) Es muss aber eine Solidarität der Starken mit den Schwachen im Land geben. (Da seid Ihr Herren dann aber gefordert! Und wozu?) ... zu größerer Kreativität, um geringqualifizierten Arbeitslosen Aufgaben zu geben, für die sie bezahlt werden (also immer mehr von der Sorte Jobs, von denen immer weniger leben können).“

Bei so viel Einigkeit können die beiden Politiker dazu übergehen, ihr Profil zu schärfen, die eigene Radikalität beim erfolgreichen Organisieren und Verwalten der Armut herausstreichen und die Konkurrenz von der anderen Partei bei diesem allgemeinwohldienlichen Werk unendlich alt aussehen zu lassen. Es kommt das auf, was bei uns politische Auseinandersetzung heißt und wofür die öffentlich-rechtlichen Anstalten wie das private TV in ihren Polittalks die Bühne stellen: Wer sticht wen aus? Heute Abend: beim Verarmen des Volkes.

Die arme Sau vom Anfang ist damit allerdings moralisch noch nicht vollständig ausgeschlachtet. Die Moderatorin muss gar nicht versuchen, ein griffiges Fazit hinzumoderieren, das geht von allein: Rüttgers verspricht mit Merkel zu reden, wenn Beck mit Müntefering spricht; man darf also weitere großkoalitionäre Verfeinerungen bei der Verwaltung der Armut erwarten. Obermann geriert sich als der sozial verantwortlichste aller Kapitalisten, weil er deutlich mehr als 5 Euro zahlt, man ihm das hoch anrechnen und glatt vergessen soll, dass er gerade seinen Leuten mit einem Stundenlohn unterhalb des regierungsamtlich diskutierten Mindestlohns droht. Frau Bischöfin kann schon von Berufs wegen Menschen nicht auf Leistungsträger am Arbeitsplatz reduzieren, und für Beck ist Arbeit kein bloßer Gelderwerb, sondern verschafft Anerkennung und Selbstwertgefühl, also einen Lohn, den man in Euro gar nicht beziffern kann. Damit bringt die Diskussionsrunde den Titel der Sendung in seine kapitalistisch korrekte Reihenfolge: die Arbeit der studierten Billiglöhnerin hat ihren Wert nämlich überhaupt nicht verloren! Ohne rot zu werden, spendieren alle fünf der Frau aus dem Volke stellvertretend für dieses eine Mütze Respekt dafür, dass sie sich für 5 Euro pro Stunde bewundernswert und vorbildlich um den Aufschwung Deutschlands verdient macht und ihr dieser Dienst an der Rendite anderer auch noch Spaß bereitet. Die staatliche Unterstützung vom Amt braucht sie deswegen nicht als „erniedrigend zu empfinden“. Die soll sie als gesellschaftliche Anerkennung ihrer Leistung genießen und so erhobenen Hauptes am Montagmorgen wieder in ihrem Callcenter antreten: Alles Gute!

Am Tag danach: Die fachmännische Beurteilung

Keine deutsche Zeitung will die Sendung unkommentiert lassen. Nicht, dass irgendetwas Neues oder Wichtiges verlautbart worden wäre, was die Journalisten dem restlichen Publikum hätten mitteilen wollen. Das erwarten sie weder noch klagen sie es ein. Dafür legen sie grundsätzlichere Maßstäbe an. Bereits die Auswahl des Themas finden sie fragwürdig. Ausnahmslos alle vermissen den erhofften Knüller, stellvertretend der Mann von der FAZ:

„Hätte Anne Will nicht ein spannenderes Thema finden können? Die Außenpolitik zum Beispiel – die Bundeswehr in Afghanistan, die Terrorgefahr in Deutschland. War vielleicht schon abgenudelt und eine Debatte über soziale Gerechtigkeit geht bei uns ja immer, da macht man nichts falsch.“

Der deutsche Kriegseinsatz im Ausland und die innere Mobilmachung wäre vielleicht was gewesen, das war aber in dieser Woche bei der Konkurrenz schon zweimal dran. Lohnsenkung und Hartz IV mögen ja viele existenziell betreffen und sind auch noch lange nicht an ihrem Ende, die Besserverdiener in den Redaktionsstuben finden die Sache aber mittlerweile langweilig, das hatten sie doch schon x-mal:

„Wir sind plötzlich wieder mitten in dem Weltuntergangsszenario, das Sabine Christiansen gefühlte neunhundertneunundneunzig Mal beschworen hat. Das nämlich konnte man nach den ersten dreißig Minuten bei ‚Anne Will‘ denken, dass alles, aber auch wirklich alles immer schlechter wird.“ (FAZ) „Auf der Couch lag Deutschland. Das kalte, unsoziale Deutschland, versteht sich.“ (Spiegel) „Untergangsstimmung, ein Land am Abgrund.“ (Welt)

Diese ewige Miesmacherei kotzt uns schon lange an. Und jetzt soll man sich schon wieder wegen der Armen ein schlechtes Gewissen machen. Am Sonntagabend bitteschön gute Laune, Deutschland! Ein entschiedenes Ja! zu den warm und sozial gefühlten Verhältnissen, egal, wie die für viele in diesem Land aussehen mögen. Doch einsam sind die Tapferen: Doch für gute Nachrichten rührte sich keine Hand im Studio. Das scheint das Problem der Gesellschaft überhaupt zu sein. Und noch einsamer die, die mit dem Selbstbewusstsein des mündige Bürgers zur Kritik schreiten: Es fehlt ein Selbstbewusstsein, das kritisch ist und gerade deshalb jener deutschen Macht der Angst trotzt, die vor lauter kranken Bäumen den grünen Wald, vor lauter Problemfällen die große Chance nicht mehr sieht. (Spiegel) Selbstbewusste Kritik heisst, dass man den Problemfällen, Jammerlappen und Angstmachern das Maul stopft, die sich ihr Geld nicht einteilen können und dafür gleich unser grandioses Land mit seinen blühenden Landschaften schlecht reden!

Aber es war auch nicht alles schlecht bei Anne Will. Sie hat es zumindest versucht und der Macht der Angst getrotzt – mit dem Pinsel:

„Dabei waren die Voraussetzungen gut. Die kühle Kugel, in der noch Sabine Christiansen ihre wöchentliche Runde leitete, ist in Berlin ersetzt worden durch ein angenehmes Studio, dessen schickes Design und warme Farben Atmosphäre herstellen. Einzelgespräche mit Betroffenen und Experten auf einem weißen Sofa lockern die Dramaturgie auf.“ (SZ) „Anne Will, die im grauen Hosenanzug lächelnd die gewohnte Figur abgab ... Man saß in roten Schalensesseln, und das beige-rot-braune Ambiente verbreitete eine Art post-postmoderne Gemütlichkeit.“ (Spiegel)

Den Zuschauer angenehm farblich erwischen, atmosphärische Gemütlichkeit rüberbringen, locker lächeln, Hosenanzug: Das sorgt schon mal für die positive Grundstimmung, auf die es ankommt. Das inszeniert das Deutschland, das wir wollen, das postmodern kuschelige, „versteht sich“. An sich kommt es auf das Thema der Runde da gar nicht mehr an. Aber wenn Dramaturgie, Ausstattung, Farben, Kleidung und Frisur stimmen, wäre u. U. sogar aus so etwas Fadem wie dem sozialen Elend etwas Anständiges zu machen:

„Was aber wäre gewesen, wenn Günther Jauch am Sonntag auf dem Eierschalenstühlchen von Anne Will gesessen hätte? Nun, Jauch hätte vermutlich seine Kunstpausen eingelegt, die Augen gerollt, zwischendrin gelächelt, zuweilen eine Spur zu naiv nachgefragt und schließlich irgendwelche Schlüsse gezogen, die auf- oder angeregt hätten. Die Grabesstimmung im Studio wäre lebhafter Anteilnahme gewichen, auch bei den Zuschauern.“ (SZ)

Tja. Irgendwelche Schlüsse, die auf- oder anregen: Das ist die lebhafte Anteilnahme, die ein Intellektueller sich für Sonntagabend wünscht und von der er meint, dass sich mit ihr auch das restliche zuschauende Volk über seine eigene Verarmung glänzend amüsieren könnte.