Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Der Aktionstag der Kassenärzte
Die neueste Runde im immerwährenden Kampf um den Preis des höchsten Gutes

Ärzte streiken – für mehr Geld. Die Krankenbetreuung ist hierzulande vom Staat als Geschäft organisiert, dem es nicht an Nachfrage, wohl aber an Zahlungsfähigkeit gebricht. Diese frank und (therapie)frei für sich zu nutzen – diesem Ziel der Ärzteschaft tritt jetzt die Regierung wieder einmal mit neuen Verfügungen über Honorardeckelung und Medikamentenkostenbegrenzungen entgegen – und entlarvt so ihre (krankenkassensozialistische) Gesinnung.

Aus der Zeitschrift

Der Aktionstag der Kassenärzte
Die neueste Runde im immerwährenden Kampf um den Preis des höchsten Gutes

Am 18. Dezember wird das Land endlich mal wieder von einem Streik erschüttert. Ein Berufsstand, der nach der festen Überzeugung seiner Standesvertreter schon seit Jahren unter unerträglichen Belastungen und Gängelungen leidet, baut sich mit Transparenten auf den Marktplätzen der Nation auf. Die bundesdeutschen Kassenärzte können ihr Elend, das im wesentlichen aus einer von der amtierenden Gesundheitsministerin beschlossenen Begrenzung der ärztlichen Honorarzuwächse im kommenden Jahr besteht, nicht länger ertragen und schließen ihre Praxen für einen Tag. Das nennt sich dann der „erste deutsche Ärztestreik seit 70 Jahren“. Auch wenn von einem Streik eigentlich überhaupt nicht die Rede sein kann, denn schließlich hat hier niemand seinem Arbeitgeber die Arbeit verweigert. Es haben sich im Gegenteil Leute zu einer Demonstration ihrer gesellschaftlichen Bedeutsamkeit aufgestellt, die sich bei jeder Gelegenheit als Teil jenes berühmten „leistungsorientierten Mittelstands“ feiern, der hierzulande bekanntlich unablässig damit beschäftigt ist, anderen weniger risikobereiten Mitmenschen Arbeitsplätze zur Verfügung zu stellen. Deshalb liegt es auf der Hand, daß sich die Kassenärzte, wenn es an ihre Honorare geht, verantwortungsvoll auf ihre Rolle als Arbeitgeber besinnen und der Nation damit drohen, ihr Personal zu entlassen. Das macht eben den Unterschied aus zwischen einem echt leistungsorientierten Mittelstand und eher unteren Ständen: Von einem Streik des Berufsstands der Arzthelferinnen, deren „Honorarzuwächse“ in den letzten Jahren auch nicht gerade das Gelbe von Ei waren, hat man noch nichts gehört. Aber die Ärzteschaft denkt selbstverständlich nicht nur an ihre Angestellten, wenn sie an ihren Geldbeutel denkt. Nein, auch der Patient ist ein immergegenwärtiges Sorgeobjekt derer, die mit seiner Krankheit ihr Geschäft machen. Denn wenn der Doktor weniger verdient – wer leidet dann unter seiner 5-Minuten-Medizin? Na eben – der Patient! Und das kann doch wohl kein ernstzunehmender Gesundheitspolitiker wollen!

Mit diesen ehrenwerten Parolen haben sich die Kassenärzte zum Demonstrieren hinreißen lassen – und eine ziemlich schlechte Presse bekommen. Die Heuchelei, im Namen der leidenden Patienten nach höheren Ärzteeinkommen zu rufen, hat unsere hartgesottene Öffentlichkeit nämlich sofort durchschaut und den kassenärztlichen Standesvertretern diesmal nicht durchgehen lassen. Kommentatoren und Leitartikelschreiber, die höchstwahrscheinlich auch keine Zeile umsonst abliefern, kommen im wesentlichen zu dem Schluß, daß die Kassenärzte sich mit ihrem Gejammer als geldgieriger Haufen präsentiert haben, dessen Hauptproblem darin besteht, daß sich seine unterschiedlichen Fraktionen – die Haus- und Fachärzte – nicht über die Verteilung der Honorarsummen einigen können.

Es kann also festgehalten werden: Auch in unserem wunderbaren Gesundheitswesen geht es, wie überall sonst in unserer freien Marktwirtschaft, um nichts anderes als ums Geld. Die Ärzte wollen mehr davon; Gesundheitspolitiker und kritische Öffentlichkeit stehen auf dem Standpunkt, im Gesundheitswesen gibt es Geld genug zu holen, die kassenärztliche Selbstverwaltung soll es gefälligst ordentlich unter ihren Leuten verteilen.

Das scheint allerdings nicht so ganz einfach zu sein. Im öffentlichen Streit zwischen Ärzten, Kassen und Ministerium kommen jedenfalls „Problemlagen“ zur Sprache, die ein bemerkenswertes Licht darauf werfen, wie absurd es zugeht, wenn sich in den Angelegenheiten von Gesundheit und Krankheit alles ums Geschäft dreht.

  • Von den ca. 50000 Medikamenten, die auf dem Markt sind, so hört man, ist mindestens die Hälfte rein medizinisch gesehen völlig unnötig. Entweder weil ihre Wirkung höchst umstritten bis nicht vorhanden ist – oder weil ein und derselbe Wirkstoff in zig verschiedenen Aufmachungen und zu höchst unterschiedlichen Preisen, von verschiedenen Firmen oder auch von einem Pharma-Multi in verschiedenfarbige Packungen verpackt, auf den „lukrativen Pharmamarkt“ geworfen wird, um dort Marktanteile zu erobern.
  • Für eine sachgerechte Auswahl sollen die Ärzte sorgen, die selber nur soviel Überblick haben, wie ihnen von emsigen Pharma-Vertretern aufgeschwatzt wird. Mangelnde Kompetenz bei der Beurteilung fragwürdiger Medikamente und unüberschaubarer Alternativangebote wird dadurch ausgeglichen, daß Preisvergleiche – mittlerweile als handliche Software im Praxiscomputer abrufbar – die Entscheidung erleichtern und die Drohung mit einem Regreß bei Überschreitung eines gewissen Arzneimittelbudgets – das andererseits hoch genug ist, um der Pharma-Industrie nicht wehzutun – für eine ernsthafte Abwägung sorgt.
  • Des weiteren hört man, daß Ärzte nicht mehr verdienen, wenn sie mehr arbeiten – aber auch nicht weniger, wenn sie weniger tun. Ihre Gage hängt nämlich von irgendwelchen omninösen „Punktwerten“ ab und von „Budgetierungen“, deren Konstruktion und Bewegungen zwar außer ein paar ausgefuchsten Fachidioten kein Schwein durchschaut; gerade deshalb hat die Ärzteschaft aber immer alle Hände voll zu tun, um ihre Heilkunst an diesen segensreichen Vorgaben auszurichten. Das nennen die Vertreter der Kassenärzte dann anklagend den „Zwang, wie der Hamster im Laufrad dem Punktwert hinterherzurennen“.
  • Der Ideal-Patient, auch das wird öffentlich ausgeplaudert, ist im Lichte dieser ärztlichen Bemühungen der leidlich gesunde, relativ junge Erwachsene, der einmal pro Quartal seine Versicherungskarte zum Einlesen in den Praxiscomputer vorbeibringt und ansonsten keine – schlecht bezahlten – Umstände macht.
  • Die Alternative, auch sie wird nicht verschwiegen, besteht darin, in die „Apparatemedizin“ zu investieren und dafür zu sorgen, daß der Maschinenpark ordentlich ausgelastet wird. Ob die angeleierten Untersuchungen – rein medizinisch gesehen – immer so hundertprozentig notwendig sind oder der Doktor, der – ganz leistungsorientierter Mittelständler – dafür sorgt, daß sein Laden rentabel arbeitet, immer so hundertprozentig firm ist im Einsatz der Apparate und bei der Auswertung der Ergebnisse, das ist dann ein eher nachgelagerter Gesichtspunkt.
  • Derweil geht der medizinische Fortschritt unaufhaltsam immer weiter. Und das ist nicht gut, sondern ein neues Problem: Zwar eröffnet jede Neuerung in Diagnostik und Therapie eine neue Geschäftschance – für Pharma-Firmen, Gerätehersteller, anpassungsbereite Mediziner –; um aus der Chance ein Geschäft zu machen, braucht es aber andererseits immer mehr Geld, das dann anderswo fehlt.
  • Dasselbe Problem wirft die Tatsache auf, daß immer mehr ausgebildete Mediziner den Gesundheitsmarkt bevölkern und bezahlt werden wollen: Eine „Ärzteschwemme“ überrollt die Gesellschaft und untergräbt jede zweckmäßige Patientenversorgung…
  • Denn eins ist klar: Wo immer mehr Ärzte immer teurere Gesundheitsdienste anbieten, da hilft letztlich nur eins: rationieren. Die „Ärzteschwemme“ eindämmen; den medizinischen Fortschritt selektiv zuteilen; per Saldo: einen sozialverträglichen Ausschluß der Patientenmassen von drohender „Überversorgung“ organisieren: Das leuchtet den Verantwortlichen so langsam als gesundheitspolitisches „Gebot der Stunde“ ein.

Dieser ganze Wahnwitz ist die logische Konsequenz des staatlichen Beschlusses, auch die Betreuung des Krankenwesens partout als Geschäft zu organisieren. Alle speziellen Verrücktheiten ergeben sich folgerichtig daraus, daß es bei den zu betreuenden Massen, der Basis dieses marktwirtschaftlichen Geschäftszweiges, zwar keineswegs an Nachfrage, um so mehr aber an Zahlungsfähigkeit gebricht: Sobald sie krank sind, verdienen sie nichts mehr – und hätten ohne staatliche Vorschriften zur befristeten Lohnfortzahlung mit anschließender Lohnersatzzahlung durch die Krankenkassen überhaupt kein Geld mehr zur Verfügung; und was sie verdienen, solange sie noch gesund sind, geht regelmäßig für einen wenig gesundheitsförderlichen normalen Lebensunterhalt drauf und enthält keine Reserven für das, was die Gesundheitsindustrie samt ärztlichem „Mittelstand“ für ihre Güter & Dienstleistungen in Rechnung stellt. Deswegen wird von Staats wegen sozialpolitisch vorgesorgt und Geld eingesammelt, solange die Leute noch etwas verdienen; zwangsweise und ohne daß sie es erst in die Finger kriegen. So kommt aus massenhafter Zahlungsunfähigkeit dann doch ein enormer Haufen kollektiver Zahlungsfähigkeit für Gesundheitsdienste und Krankenversorgung zustande; verwaltet von Kassen, die von Staats wegen eine weitreichende Verhandlungsvollmacht besitzen: Sie treten nicht als Kunden auf, die einem konkurrierenden Anbieter seinen Preis bezahlen, sondern handeln Vergütungen für typisierte medizinische Leistungen aus. Sie garantieren also den Geschäftscharakter der medizinischen Volksversorgung, legen die Ärzte auf den Gebrauch ihres Handwerks als Einkommensquelle fest – und eröffnen eben damit unweigerlich den unendlichen Streit um die passende, gerechte Bezahlung der ärztlichen Leistungen fürs „höchste Gut“ der versicherungspflichtigen Massen. Denn jeder Gesichtspunkt der Geld-Zuteilung an den medizinisch tätigen „Mittelstand“ kommt dem ärztlichen Geschäftssinn als Beschränkung vor, die durch eine entsprechend sinnreiche Einteilung der heilenden und helfenden Tätigkeit und notfalls durch ein paar geschickte abrechnungstechnische Manipulationen ausgeglichen sein will; das fordert wiederum die Vertragspartner, die Kassen, zu mehr Raffinesse bei der Honorar-Zuteilung heraus; was wiederum die Ärzteschaft nicht ruhen läßt… Jahrzehnte des entsprechenden Kleinkriegs haben da mittlerweile ihre Spuren hinterlassen – im Abrechnungswesen der Kassen wie im Gerechtigkeitsempfinden der Mediziner, die durch ihre Einkommensquelle selbst dazu angehalten werden, den Unterschied zwischen dem medizinischen und dem honorierten Wert ihrer Tätigkeit zu vergessen und lohnend, dabei aber auch sparsam Hand anzulegen.

Dieser Streit ist jetzt eskaliert. Erstens wegen der staatlichen Verfügung, jenseits aller Abrechnungsmodalitäten eine Obergrenze bei der Honorarausschüttung und bei den Medikamentenkosten einzuhalten; zweitens angesichts der Tatsache, daß eine Regierung diese Maßnahme verhängt hat, die nach dem Mehrheitsgeschmack der Ärzteschaft ohnehin im Verdacht steht, den Mittelstand zu ruinieren und Therapiefreiheit durch Krankenkassensozialismus zu ersetzen. Dabei stehen auch die Vorschriften des neuesten Gesundheitsreform-Vorschaltgesetzes ausschließlich im Dienst des schwierigen Anliegens, mit aller staatlichen Gewalt dafür zu sorgen, daß die Volksgesundheit keine Ausnahme von der marktwirtschaftlichen Regel macht, sondern als privates Geschäft abgewickelt werden kann: ein schönes Beispiel dafür, wieviel – in diesem Fall: sozialpolitische – Gewalt eine funktionierende Marktwirtschaft benötigt. Und ein schönes Beispiel für das Maß an Borniertheit, das dieses wunderbare System von seinen Aktivisten verlangt, wenn die betroffene Ärzteschaft aufgeregt in flammenden Appellen fordert, „der Staat“ hätte sich aus ihrem segensreichen Wirken gefälligst herauszuhalten

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Beigetragen zu dieser Eskalation hat der Präsident der Bundesärztekammer, Vilmar, mit einer Äußerung, die allenthalben mit Empörung aufgenommen worden ist: Wenn die Ärzte weniger verdienen, erklärt er frank und frei in einem Interview mit dem Norddeutschen Rundfunk, dann müssen die Patienten mit weniger Leistungen zufrieden sein, und wir müssen insgesamt überlegen, ob diese Zählebigkeit anhalten kann oder ob wir das sozialverträgliche Frühableben fördern müssen (FAZ, 11.12.). Tags darauf bekräftigt er nochmal, daß eine dauerhafte Budgetierung im Gesundheitswesen zwangsläufig dazu führt, daß die Menschen früher sterben. (FAZ, 12.12.)

Ein Aufschrei der Entrüstung geht durchs Land, quer durch alle Parteien bis hinein in die Ärzteschaft; unisono wird Vilmar zum Rücktritt aufgefordert. „Unglaublicher Zynismus“ sei das, tönt es von allen Seiten. Dabei haben die, die sich so aufregen, durchaus verstanden, daß Vilmar auf die Folgen der staatlichen Sparmaßnahmen für die Patienten hingewiesen und keinen Aufruf zur Euthanasie gestartet hatte. Was nehmen sie ihm also übel?

Mit seiner sarkastischen Bemerkung hat Vilmar gegen eine derzeit gültige Sprachregelung verstoßen, die besagt, daß Sparmaßnahmen erstens unumgänglich sind, zweitens aber keine Auswirkungen auf die medizinische Versorgung haben. Das ist zwar absurd: Denn wenn jede ärztliche Leistung etwas kostet, dann gibt es auch nur soviel Leistung für den Patienten wie Geld für den Arzt. Dennoch gilt die Sprachregelung im Sinne des Dogmas: alles, was gekürzt wird, ist damit als „Überversorgung“ entlarvt; denn wenn es jetzt wegfällt, muß es ja überflüssig gewesen sein. Also bedeutet Sparen keine Einschränkung für die Patienten. Daß Vilmar diesen Schwindel einmal durchbrochen hat, daß er schlicht ausgesprochen hat, was wirklich die Logik des Gesundheitswesens bestimmt – darin besteht sein Verbrechen.

Die Kollegen werfen ihm vor, er habe das Bild des Arztes in der Öffentlichkeit beschmutzt, weil er mit seinen „schlichtweg dummen“ Worten das „Bild des geldgierigen Mediziners“ fördere und damit eine „Schande für unseren Berufsstand“ darstelle – so der Berliner Ärztepräsident Huber (SZ, 14.12.). Ihnen paßt nicht, daß er die übliche Heuchelei, es ginge ihm nur ums Wohl des Patienten, nicht richtig zum Ausdruck gebracht hat. Öffentlichkeit und Politiker werfen ihm „Panikmache“ vor, die „Gesellschaft für Deutsche Sprache“ wählt seinen Ausspruch wegen seines „unüberbietbaren Zynismus“ zum „Unwort des Jahres“ und stellt damit nochmal klar, worin sein faux pas besteht: Er hat sich im Ton vergriffen.

Zynisch ist allerdings die Debatte, die in der sprachhygienischen Forderung gipfelt, den praktizierten Zynismus eines Gesundheitssystems, das das Überleben tatsächlich zu einer Geldfrage macht, doch bitte in schönfärberische Worte zu kleiden, und von lauter Leuten geführt wird, die an diesem System nichts auszusetzen haben – auch Vilmar nicht. Auch er argumentiert auf Basis der praktisch gültigen Gleichung, die in jeder Richtung gilt: Woran der Arzt verdient, daran gesundet der Patient. In diesem Sinne malt er die schrecklichen Folgen für die Patienten aus, um seiner Forderung nach einem anständigen Einkommen für Ärzte Nachdruck zu verleihen.