Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
850 Jahre Mockba
Die russische Hauptstadt feiert ihre Geschichte
Das „neue Russland“ revidiert seinen patriotischen Überbau. Dafür muss der nationale Wertebestand von Zeugnissen des sozialistischen Irrwegs bereinigt und durch Anleihen aus dem historischen Erbe der Zarenherrschaft bereichert werden.
Aus der Zeitschrift
Teilen
850 Jahre Mockba
Die russische Hauptstadt feiert ihre
Geschichte
Das offizielle Fest zum 850. Jahrestag der Gründung
Moskaus wird als ein Fest des Pomps und nationalen Pathos
begangen. Die Machthaber feiern die Geschichte
dieser Stadt. Es versammeln sich die herrschende Elite
und geladene Honoratioren am Reiterstandbild Juri
Dolgorukis, um Jelzins Eröffnungsrede zu lauschen. Der
Präsident feiert Moskau und seinen neuen,
volkstümlichen
Bürgermeister namens Luschkow, in
der Sicherheit, daß die Gloriole, mit der er die beiden
Geehrten versieht, in erster Linie auf ihn, den Vorsteher
des russischen Gesamtladens zurückfällt. Bürgermeister
Luschkow, der moderne, von Jelzin ernannte und vom Volk
gewählte Stadtherr Moskaus, weiht zu Ehren des großen
Tages eine Statue des Zaren Peter des Großen ein. Auch er
ist sich sicher, daß dieses zu 80 Metern Höhe gediehene
Werk der Bildhauerkunst vor allem ihm selbst als seinem
Auftraggeber zur Ehre gereicht. Anerkannte Vertreter der
Weltkultur – Pavarotti, Copperfield – tragen ihr
Scherflein zur Botschaft bei, daß Moskau eine Weltstadt
ist.
Wie ihre Herrscher bei ihrer Feier bleiben auch die
Untertanen ganz unter sich, wenn sie den Geburtstag
Moskaus für sich zum Erlebnis machen. Russischer Zirkus,
russische Chorkunst und Nachstellungen russischer
Militärgeschichte im Siegespark stiften frohe Laune. Den
Eindruck, daß bei der Feierstunde des nationalen
Kollektivs auch sie – irgendwie – mit dabei sind und
geehrt werden, unterstreichen 250 Baudenkmäler, die als
Chronik der Steine
angestrahlt werden.
Moskau landet also 1997 bei genau demselben Drehbuch, nach dem jede nur halbwegs auf sich haltende Metropole dieser Welt ihre feierlichen Anlässe begeht. Haufenweise nationales Pathos und Pomp sowie der Rückblick auf Glanz und Elend vergangener Jahrhunderte überhöhen die gerade real existierende Herrschaft zusammen mit ihren Knechten zu einer idealen, dem Alltagsleben nicht entlehnten, dafür historisch verbürgten Gemeinwesenschaft der höheren Art. Alte wie neue Werke von Bildhauern, Architekten, Dichtern und Choreographen adeln die amtierende Herrschaft, indem sie Größe & Gediegenheit des Gemeinwesens vor Augen stellen, welches sie in seiner Tradition hervorgebracht hat. Zugleich statten sie dem Volk die ihm gebührende Ehre ab, indem sie in Wort und Bild die patriotische Botschaft vom unverwüstlichen Kontinuum der historisch gewachsenen, gebeutelten und dadurch wieder gewachsenen Einheit von Volk und Staat versinnlichen.
Doch einen kleinen Unterschied zum herrschaftlichen
Normalfall gibt es im neuen Rußland schon. Was in den
europäischen Metropolen der ruhmreichen kapitalistischen
Herrschaft schon immer zur Normalität ihrer jeweiligen
Selbstdarstellung gehört, ist für die neue Hauptstadt
Rußlands ohne eine kleine Perestroika im patriotischen
Überbau nicht hinzukriegen. Was die unmittelbar
zurückliegenden 70 Jahre betrifft, ist die Tradition, mit
der das neue Rußland
renommieren will, nach
heutigem Urteil ein einziger Irrweg der Nation.
Die etwas längere Periode vor der sozialistischen Epoche
war ihrerseits in Rußland nicht gut beleumundet, und auch
nach allen aktuell geltenden Geschmackskriterien gehören
knackiger Despotismus und feudalistisches
Knechtschaftswesen nicht unbedingt zu Posten, mit denen
Nationen für ihre Tradition Ehrenpunkte zu sammeln
pflegen. Also gilt es, die Tradition Rußlands von dem
sozialistischen Irrweg zu säubern, umgekehrt die
davorliegende Herrschaftszeit zu rehabilitieren: Daß die
dem Sozialismus zum Opfer gefallen war, reiht sie allein
schon in den Wertebestand ein, auf den man in Rußland
heute stolz sein möchte.
Der Grundstein der ruhmreichen Geschichte: Moskau, die Zarenkapitale
Freilich artet der Rückgang
zur Tradition
Rußlands vor der Revolution 1917 nicht gleich in eine
Hymne auf die Auspeitschung der Landbevölkerung aus. Das
wäre zwar ehrlich, aber nicht passend für den Zweck, für
den Bürgermeister Luschkow in seiner Stadt rote Sterne
abräumen und an ihrer Stelle den russischen Adler
aufpflanzen läßt. Den herrschaftlichen Glanz,
mit dem die Autokraten ihr mittelalterliches Moskau
versahen, hat er dazu auserkoren, das neue Moskau in
seiner uralten russisch-herrschaftlichen Seele
widerzuspiegeln und ihm darüber heutige Größe zu
verleihen. Erfolgreiche Anleihen beim historischen Erbe
der Zarenherrschaft setzen also eine sehr interessierte
Befassung mit allem voraus, was so beeindruckend
aus der stolzen Parole des Zarentums spricht – über
Moskau ist der Kreml und über dem Kreml ist nur noch
Gott
.
Moskau als Zarenkapitale war Zentrum der
Staatsgründungskriege. Krieg, Brandschatzungen,
Verwüstungen und Hungersnöte waren an der Tagesordnung.
Zu kämpfen gab es viel. Nach außen gegen die Tataren,
nach innen um die Macht; Bojaren kämpften gegen den
Großfürsten, dieser gegen jene; offene Waffengänge waren
die Regel, Meuchelmord und Vergiftungen lichteten die
Stammbäume der herrschenden adligen Klasse ohne größeren
Aufwand; Popen, in Wehrklöstern vorwärtsverteidigend um
den Moskauer Kreml gruppiert, mischten in dieser
abwechslungsreichen Zeit tatkräftig mit, segneten und
krönten dann den jeweils überlebenden Großfürsten; ab
Iwan III. nannte sich dieser Herrscher der gesamten
Rus
, dann Zar
; russische Mönche bemühten die
Etymologie, um ihren Herrscher über Cäsar von Gott
herzuleiten; darüber wurde Moskau drittes Rom
,
trägt also seitdem das Erbe des Abendlandes mit.
Die im Laufe der Jahrhunderte gewonnene Macht der Zaren suchte und fand ihren sinnfälligen Ausdruck. Der Kreml, anfänglich eine schlichte Befestigungsanlage, beherbergte schließlich nur noch den Zaren selbst, den Metropoliten, die Garde und den Hofstaat, und wurde darüber zum Gesamtkunstwerk veredelt. Das heißt keineswegs, daß die Herrschaft der Zaren damit ihre Bindung zum Volk verloren hätte, im Gegenteil. Von dem mußte der Reichtum ja kommen, damit er zur kulturvollen Weihe der Macht verwendet werden konnte, und in ausreichender Menge mußte er von dem auch eingesammelt werden, damit er neben der Befriedigung der allfälligen Prunksucht der Herrschenden auch eine ewig bleibende Erinnerung an ihre schönsten Kriegserfolge hergab.
So zeugen die fünf Kathedralen mit ihren echt vergoldeten
Kuppeln und den anderen wertvollen Zutaten, mit denen der
Kreml zur Ehre seiner Zaren veredelt wurde, von ganz viel
Mord, Totschlag und reichlich Elend der vielen Russen.
Aber eben auch von ihrer Geduld, letzteres zu ertragen,
und das macht die Volksseele so russisch und den Prunk
ihrer Herren erhaben: Was der Kreml in seiner Pracht
widerspiegelt, sind Größe und Erfolg des
gesamtrussisch-nationalen Herrschaftswerks, zu dem es
Zaren einmal brachten, und genau das besticht einen
modernen russischen Nationalisten wie Luschkow. In
dieses Erbe möchte er sich gerne stellen und
entdeckt daher im Programm der Zaren, dem Sammeln
russischer Erde
, gleich das Projekt, das es heute als
Rußlands Einheit
fortzuschreiben gilt:
„Alles was Peter I. und Katharina II. erobert haben, wird wieder in Rußlands Schoß fallen, Sewastopol wird russisch.“
Die Metzeleien und vielen Opfer der Russen, mit denen einst Zaren eine russische Großmacht zuwegebrachten, stehen ihm stellvertretend für den ewiggleichen Leidens-, aber eben auch Erfolgsweg, den ein Volk zusammen mit seiner Herrschaft auf dem Weg zu Macht und Ruhm der Nation nun einmal zu beschreiten hat. Diese Botschaft ist der Auftrag, zu dem sich ein Luschkow von der russischen Tradition verpflichten lassen will und die ihm der russische Adler symbolisch vertritt.
Unrühmliches Zwischenspiel: Moskau, Hauptstadt der UdSSR
Das realsozialistische System wurde von den neuen
Machthabern bekanntlich vollständig, die Symbolik seiner
roten Sterne weitgehend abgeräumt. Letzteres muß jetzt
unbedingt vollendet werden, weil der Überbau
dieser Herrschaft überhaupt nicht dazu taugt,
das neue Rußland
an seiner Hauptstadt
widerzuspiegeln.
Wirkliche Volksherrschaft, d.h. ein Staat der Einheit
von Arbeitern und Bauern
zu sein, war die Losung der
bolschewistischen Revolutionäre. Das Programm zeugte
einerseits von ihrem Gegensatz zur Herrschaft
und Produktionsweise des Feudalismus wie zu der des
Kapitalismus. Andererseits aber schon auch vom Willen zur
Versöhnung der Klassengegensätze – durch,
mittels und über den volksfreundlichen
Staat nämlich. Zum Kommunismus reichte die
antikapitalistische Systemkritik der KPdSU daher nicht.
Nur das bürgerliche Lager registrierte anfänglich eine –
blöderweise – verwirklichte Utopie, nach längerer
Haltbarkeit derselben ein marodes System
und hielt
beides für typisch Kommunismus.
An der Macht erarbeiteten die Bolschewiken einen Generalerneuerungsplan für Moskau. Kriegs- und Hungersnot, Elendsviertel, Seuchen und Analphabetentum wurden beseitigt. Kanalisation und Metro wurden gebaut, Schulen, Krankenhäuser und Universitäten, Stadtviertel und Gartenstädte sowie handgezählte sieben Hochhäuser waren Teil der zivilisatorischen Leistungen, mit denen die Herrschaft ihrem ideellen Auftraggeber – dem Volk, dem zu dienen sie sich vornahm – gegenüber aufwartete. Die von ihr organisierte Planwirtschaft, die den dafür nötigen gesellschaftlichen Reichtum erbrachte, war allerdings keine. Sie war nur eine sehr aufwendige Methode, den Nutzen, den das Volk von seiner Herrschaft haben sollte und auch erwarten durfte, als Dienstverhältnis des Volkes am vom Staat verwalteten Gemeinwesen zu organisieren. Diese Lebenslüge der KPdSU, die von ihren proletarischen Massen verlangten Dienstleistungen und die staatlicherseits gewährten Dienste als einen ewigen Äquivalententausch zwischen Herrschaft und Volk zu inszenieren, gab schon wieder einen höheren Auftrag zur Repräsentation her. Auch im realen Sozialismus gelangten Kunst & Kultur zur Blüte, weil auch der ohne eine idealisierende Tilgung des Gegensatzes nicht auskommen wollte, in dem er als Herrschaft zu seinen Untertanen stand.
Im Vergleich zur Zarenherrschaft wie auch zur Herrschaft der westlichen Demokratie waren allerdings die Hauptdarsteller der genuin realsozialistischen Widerspiegelungen ziemlich einmalig: Ein Mausoleum für den Revolutionär Lenin, viele beeindruckende Monumente für Bauern und Arbeiter sowie noch beeindruckendere Monumente für die Produktivkräfte, die es im sozialistischen Produktionsverhältnis ja endlich frei entfesselt zu bewundern galt. Das alles sind sicherlich Zeugnisse hoher Kultur. Mit Sicherheit aber nicht davon, daß da ein organisierter Verein endlich einmal Vernünftiges in seiner freien Zeit anstellt, sich also auch das Reich der Notwendigkeit vernünftig eingerichtet hat: Auf die Verehrung des verstorbenen Führers des eigenen kommunistischen Aufbruchs legt nur eine Partei wert, die dazu übergegangen ist, ihren Kommunismus mit dem Vaterland gleichzusetzen, in dem er sich abspielt. Dann kann diese Partei auch getrost darauf verzichten, ihre Massen mit ein paar guten Gründen von dem Projekt zu überzeugen, dem sie stellvertretend für sie vorsteht. Deren Zustimmung versichert sie sich dann sehr pauschal und abstrakt, indem sie ihnen eine Gelegenheit zur patriotischen Huldigung des gelungenen Staatswesens offeriert, in dem sie leben dürfen.
Bauern und Arbeiter, wenn es sie auch noch überlebensgroß
in Stein, Bronze und gemalt gibt, künden davon, daß die
gewissen Entbehrungen, die die Werktätigen in ihren
sozialistischen Fabriken und Kolchosen erfahren, kein
Mangel sind, sondern ihnen unbedingt zur
Ehre gereichen. Nach der praktischen Vollendung
ihrer moralischen Kritik an der bürgerlichen Herrschaft
mußten die Sozialisten offenbar auch noch unbedingt den
bürgerlichen Herrscherkult vom Kopf auf die Füße
stellen. Von Marx hatten sie gelernt, daß der stoffliche
Reichtum und damit die Grundlagen auch einer
sozialistischen Herrschaft von der Arbeit und
der Natur kommen, und damit waren sie sehr
zufrieden. Was ihnen noch fehlte, waren künstlerische
Leistungen, die ihren produktiven Bemühungen, dieser
Einsicht gerecht zu werden, ihrererseits gerecht wurden,
und genau die bestellten sie sich. Das Motto vom Genossen
Stalin, wonach der Arbeiter das größte Kapital der
Nation
sei, war zwar nicht die Wahrheit in dem Sinne.
Es konnte aber so ungefähr für selbige gehalten werden,
wenn die Kunst sich um seine schöne Darstellung widmete.
„Sozialistischer Realismus“ nannte sich
dann die Bemühung, die reaktionäre Idealisierung
menschlicher Schöpferkraft für das hohe Niveau des
erreichten gesellschaftlichen Fortschritts sprechen zu
lassen.
Auch die Moskauer Metro war nicht einfach eine
arbeitsteilig zu organisierende und technisch zu
meisternde Ingenieursaufgabe. Verlangt war ein
architektonisch durchgestyltes Lob der
Produktivkräfte, weil die eben nur der
Sozialismus so richtig freisetzen kann. Diesem Anspruch
genügt keine U-Bahn, die nur fährt. Ein unterirdisches
Gesamtkunstwerk aber schon eher. Dann nämlich werden
Bahnhöfe zu Kathedralen des Volkes
und spiegeln
den Massen wider, mit was für einer Errungenschaft
sie es überhaupt und landesweit zu tun haben, wenn sie
nur unter der Erde durch Moskau fahren.
Für die modernen Vertreter russischer Macht sind diese Hinterlassenschaften einer realsozialistisch-herrschaftlichen Angeberei ein bleibendes Ärgernis. Nicht direkt aus ästhetischen Gründen, sondern weil sie die heutigen Machthaber Rußlands so unmittelbar darauf stoßen, zu welcher Größe es die alte Macht ausgerechnet mit der Staatsräson gebracht hatte, die sie selbst als unbrauchbar aus dem Verkehr zogen. Das Verlangen, die Größe einer russischen Macht heute vor Augen zu stellen, geht unmöglich mit repräsentativen Werken zu befriedigen, die zwar durchaus eine ruhmreiche Etappe in der Tradition des Herrschens auf russischem Boden bezeugen, aber doch so eindeutig den verdammten politischen Zweck dieser Herrschaft verraten. An den möchten sich die amtierenden russischen Machthaber nicht einmal mehr symbolisch erinnern lassen. Daß ihre einzig reelle Grundlage, mit einer Macht Rußland anzugeben, in dem besteht, worüber sie an Mitteln aus dem Erbschaftsfonds der Sowjetunion noch verfügen, irritiert sie dabei keineswegs.
Endlich alles modern und normal: Moskau, Hauptstadt des demokratischen Rußlands
Seitdem Freiheit und das Recht auf private Bereicherung die Raison sind, nach der die russische Gesellschaft regiert wird, spiegelt die Hauptstadt die Konsequenzen des neuen Systems wider, das nun herrscht.
Ein großer Teil der neuen zivilisatorischen Kultur kommt
ohne größeres Zutun einfach dadurch zustande, daß mit der
Einführung der Rechnungsarten des Kapitals der Staat
seine Dienstleistung am Volk für im wesentlichen beendet
hält. Die sozialen Hinterlassenschaften des alten
Systems, Krankenhäuser, Bibliotheken, Freizeitparks,
Schulen, Kinderspielplätze usw. verrotten, längst
ausgestorbene Volkskrankheiten ziehen wieder in der Stadt
ein, die Verelendung der Bevölkerung ist flächendeckend.
Für den Bürgermeister ist dies – es herrscht ja
Demokratie – durchaus auch ein Problem. Er würdigt das
Elend als Ordnungsfall und
Repräsentationsverlust seiner prächtigen Stadt,
und beides bewältigt er in bewährter russischer
Tradition: In einem Feldzug für Ordnung
läßt er
seine Polizei die Vorzeigestraßen und Vorzeigeplätze von
neuartigen Phänomenen wie verarmten Rentnern, Bettlern,
unversorgten Kriegsgeschädigten und zeitgenössischen
Kriegsflüchtlingen, Zigeunern und Wohnungslosen säubern –
Fürst Potemkin läßt grüßen; bei jedem Bombenattentat auf
Mercedesautos, Metro und Trolleybusse klärt er seine
Stadtbevölkerung dahingehend auf, daß dies das Werk einer
tschetschenischen Diaspora
sei – den Stamm der Rus
fürderhin reinzuhalten will er den Moskowitern also
unbedingt garantieren.
Auch sonst ist der Bürgermeister in positiver Hinsicht
rührig und kümmert sich um das architektonische Bild
seiner Stadt. Hauptverantwortlich betreut er den Erfolg
des Projekts, Grund und Boden der kapitalistischen
Bewirtschaftung zu überantworten, und die Spekulation
kriegt selbstverständlich eine neue
Stadtsilhouette
hin. So wird viel und hoch gebaut
in Moskau, mitten ins übrige Elend hinein, und das ist
gut so, denn einer Weltstadt muß man schon auch ansehen
können, daß sie eine solche ist.
Die Einführung der Rechnungsarten des Kapitalismus hat
auch sonst, in zwischenmenschlicher Hinsicht, positiv
Neues geschaffen, eine neue Klasse zum Beispiel.
Die ist zwar uralt, für Moskau aber neu. Man nennt ihre
Mitglieder die neuen Reichen
, ein Konglomerat aus
hartarbeitenden Jungunternehmern, Verantwortungsträgern
aus dem Bereich von Grundstücks- und Finanzgeschäften
sowie Leuten, die es mit viel Einsatz zu Fabrikdirektoren
gebracht haben. Jeder auf seine Weise paßt darauf auf,
ordentlich reich zu werden, dabei aber auch am Leben zu
bleiben, denn Geld schafft ja bekanntlich viele Neider.
Die einen verschachern Restreichtümer der alten
Staatsmacht, die anderen zweigen aus den wenigen Quellen
der neuen etwas für sich ab, an vielen bleibt viel von
dem Geld hängen, mit dem im Banken- und Finanzsektor, den
es nun auch in Moskau gibt, fleißig spekuliert wird.
Privater Reichtum ist also schon zu machen, und daß er in
seiner Abstraktheit ordentlich zur Schau gestellt gehört,
ist normal und versteht sich nun auch in Moskau von
selbst. Dort gibt es nun endlich auch – wie in jeder
gescheiten Metropole – gleich neben dem Elend postmoderne
Glaspaläste für Banken und Ölkonzerne, von einer
Privatpolizei bewachte Reichensiedlungen, feine
Boutiquen, Restaurants für die ausländischen und
einheimischen Reichen und eine ausgedehnte Sphäre der
Edelprostitution.
Freilich gibt es in einer Stadt, in der die Arbeiter der
Metro streiken, um auf deren Ruin aufmerksam zu machen,
und in der die Qualität des Trinkwassers rapide sinkt,
für einen Bürgermeister immer noch Gutes zu tun. Es gibt
auch noch soziale Zwecke, für die dieser Staat Geld übrig
hat, und so wird in der Rekordzeit von nur zwei Jahren
die Christus-Erlöser-Kirche wiederaufgebaut. Stalin hatte
diese niederreißen, ein anderer KP-Chef an ihrer Stelle
dann ein großes Schwimmbad bauen lassen, dessen
Instandhaltung gleich mit der ersten Perestroika
Gorbatschows zu teuer wurde. In der zweiten, die den
kulturellen Überbau des neuen Staates und seiner
Metropole betrifft, erinnern sich die Machthaber ihres
kulturellen Erbes. Sie denken an die Blütezeit der
russischen Seele während des Zarenreichs und denken auch
noch ein letztes Mal an Marx – und geben seiner Auskunft
über die Rolle des Glaubens – Opium des Volkes
-
bedingungslos recht. Der einzige Dienst am Volk, den sie
wirklich für unentbehrlich halten, ist die Spende einer
Stätte, in der endlich wieder russisch-orthodox
das Jammertal auf Erden beweint und Erlösung erfleht
werden kann.
PS 1: Die Moskauer Intelligentsia widmet sich dem
neuen Moskau mit dem Besinnungsaufsatz 850 Jahre
Mockba
und der Frage, warum wir Moskau lieben
.
Übereinstimmend liebt sie Moskau trotzdem
. Trotz
Armut, Obdachlosen, Flüchtlingen, Bettlern, trotz
abgerissenen Fliederbäumen, umgepflügtem Manegeplatz,
Dreck und Feuer in der Metro, trotz verlorener guter
Sitten, Mafia, und Korruption, trotz verlustig gegangener
Bedeutung, Macht, Werte, Kunst und Kultur. Der russische
Geist leidet offenbar streng patriotisch an der
Differenz von Schein und Sein russischer Macht.PS
2: Hierzulande sieht man sich nicht dazu veranlaßt,
das alte Feindbild gegen das starke Moskau
und
seinen modernen Statthalter auszugraben. Die Presse
berichtet anläßlich Moskaus Geburtstagsfeier von einem
wenig geglückten Versuch, Hollywood zu imitieren. Hier
weiß man offenbar von der Differenz von Schein
und Sein russischer Macht.