Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
35-Stunden-Woche auf Französisch:
Mit einem Arbeitsumverteilungsprogramm flexibel ins neue Jahrtausend
Die französische Regierung dekretiert die 35-Stunden-Woche, subventioniert gleichzeitig die Unternehmer-Beiträge an die Sozialversicherung und setzt die gültige Arbeitszeitverordnung außer Kraft: Die 35-Stunden-Woche gilt als erfüllt, wenn übers Jahr 1600 Stunden gearbeitet werden; die französische Arbeiterschaft wird damit zur zeitlich frei disponiblen Verfügungsmasse fürs Kapital. So ist also das Gesetz gemeint: Nicht als Arbeitsbeschaffungsmaßnahme, sondern als Angebot ans Kapital, durch effektivere Anwendung der Arbeitskraft den französischen Standort voranzubringen – und wenn dadurch Arbeitsplätze entstehen, ist der Staat vollends zufrieden.
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35-Stunden-Woche auf
Französisch:
Mit einem
Arbeitsumverteilungsprogramm flexibel ins neue
Jahrtausend
Die sozialistische Regierung in Frankreich macht endlich ihr Wahlversprechen wahr und beschert der Nation per Gesetz, was hierzulande einmal das Jahrhundertprogramm des DGB war: Die Arbeitszeit wird von 39 auf 35 Stunden reduziert. Drei Millionen Arbeitslose sollen zum Wachstum der Wirtschaft und zum Wohl des Standorts Frankreich beitragen statt das Sozialsystem zu belasten. Wenn alle weniger arbeiten, so die staatliche Rechnung, müssen mehr Arbeitskräfte beschäftigt werden. Vor und nach der Verabschiedung des Gesetzes tut sich für hiesige, in Sachen Tariftheater zwischen DGB-Gewerkschaften und Arbeitgeberverbänden erfahrene Beobachter Ungewohntes: Politische Parteien streiten im Parlament über die zu Frankreich passende Arbeitszeit, Koalitionspartner drohen, das Regierungsbündnis zu entzweien, Unternehmer protestieren gegen die Regierung und blockieren u. a. Frankreichs Transportwege, Gewerkschaften protestieren gegen Regierung und Unternehmer, blockieren ihrerseits Straßen und Grenzübergänge, und Gewerkschaften, die sich den französischen Kommunisten in der Regierungskoalition verbunden fühlen, streiten gegen regierungsunabhängige. Trotz aller Proteste: Das Gesetz ist verabschiedet und für Frankreichs Arbeitslose brechen rosige Zeiten an.
Dass die erwünschte Umverteilung von Arbeit quasi automatisch aus der Verkürzung der Arbeitszeit folgt, will man allerdings auch im Elyseepalast nicht so recht glauben. Das Gesetz begreift die neue Arbeitszeit von vornherein als Zumutung an die Unternehmen und befürchtet, dass sich ohne kräftige Subventionierung kaum die bezweckte arbeitsplatzstiftende Wirkung einstellt. Deshalb überzeugt die Regierung bereits seit 1998 die Unternehmen, die schon vor dem In-Kraft-Treten des Gesetzes die Arbeitszeitverkürzung bei sich einführen, mit Subventionen, verspricht den Betrieben, die neu einstellen, Beihilfen und subventioniert deren Beiträge an die Sozialkassen. Das staatliche Angebot, die 35-Stunden-Woche für Frankreichs Unternehmerschaft „kostenneutral“ zu gestalten und dafür den Staatshaushalt mit geschätzten 60 Milliarden Francs zu belasten, wirft unmittelbar die Frage nach deren Refinanzierung auf. Der Einfall, sich dafür am Lohn in Gestalt eines Zugriffs auf die Sozialkassen zu bedienen, wenn den französischen Arbeitern schon die 35-Stunden-Woche geschenkt wird, stößt insbesondere bei den Unternehmern auf wenig Gegenliebe, weil sie sich dann quasi auf dem Umweg über die Sozialkassen selbst ihre Subventionen zahlen würden. Mit der Drohung, aus dem französischen Sozialsystem auszusteigen, wehren sie sich erfolgreich dagegen, dass man ihnen „ihr“ Geld wegnimmt. Stattdessen finanziert der französische Staat nun Neueinstellungen mit der Einführung neuer und der Erhöhung alter Verbrauchssteuern und bedient sich so am Lohn.
Daneben beabsichtigt und bewirkt das Gesetz noch etwas ganz anderes. Der Staat nimmt sich die Beschwerde seiner Unternehmer zu Herzen, dass sie mit einer verringerten Arbeitszeit nie und nimmer ein vernünftiges Bruttosozialprodukt erwirtschaften können und setzt unter dem Titel: „Vereinheitlichung der Vorschriften zur Flexibilisierung der Arbeitszeit“ die bisher gültige Arbeitszeitordnung außer Kraft. Damit wird die französische Arbeiterschaft zu einer zeitlich frei disponiblen Manövriermasse gemacht. Die 35-Stunden-Woche gilt dann als erfüllt, wenn übers Jahr gerechnet 1600 Stunden gearbeitet werden, sich also im jährlichen Durchschnitt 35 Arbeitsstunden errechnen lassen. Die Aufteilung dieser 1600 Stunden ist Sache der Betriebe und wird in den einzelnen Branchen zwischen Unternehmern und Gewerkschaften ausgehandelt – mit dem Resultat, dass sich jede Branche bzw. jeder Betrieb die gerade passende Kombination von Über- und Unterarbeit einrichtet. So können z.B. in der neuen 35-Stunden-Woche auch 46 Arbeitsstunden in 12 aufeinander folgende Wochen angeordnet werden, und der französische Papi gehört auch sonntags nicht mehr der Familie, wenn der Betrieb ihn ruft.
Die totale Flexibilisierung der Arbeitszeit in Frankreich stößt im Unterschied zur Reduktion der Arbeitszeit auf einhellige Zustimmung beim ortsansässigen Kapital. Schließlich erfüllt der französische Staat damit das zutiefst kapitalistische Bedürfnis, Arbeitskraft nur und punktgenau dann einsetzen zu können, wenn der Betrieb sie braucht. Das verbilligt den Betrieb im Allgemeinen und die Arbeit im Besonderen: Es gibt weniger Leerlauf, wie er in den Konjunkturen eines Betriebs immer wieder anfällt. Es braucht weniger Arbeit, wenn jeder ein jederzeit abrufbarer Springer ist. Überstundenzuschläge können entfallen und der Lohn sinkt auch, wenn z. B. bisher bezahlte Feiertage als Freizeitausgleich gelten. Oder umgekehrt: Die bezahlte Arbeit wird effektiver, weil sie nur dann angewendet wird, wenn sie wirklich gebraucht wird. So bringt die kürzere, flexibilisierte Arbeitszeit mindestens ebenso viel wie die längere zuvor.
Das bedeutet freilich: Mit der Schaffung der allzeit disponiblen Arbeitskraft stellt sich das Gesetz in Widerspruch zu seinem Ausgangspunkt. Die durch die Flexibilisierung hergestellte Modernisierung der französischen Arbeitswelt bewirkt das Gegenteil der versprochenen Reduzierung der Arbeitslosenzahl, da die Effektivierung der Arbeit Arbeitskraft überflüssig macht. Den Verdacht, dass Unternehmer wieder einmal nur an sich statt an Beschäftigung für den Standort denken und lohnsparend rationalisieren, hegt auch die Regierung und sucht nach Modalitäten, um die Unternehmer dazu zu bringen, dass sie trotz Flexibilisierung doch auch mehr Arbeitskräfte beschäftigen. Innerhalb der Koalition wird lange diskutiert, ob und wie ein Zwang zu Neueinstellungen gesetzlich verankert werden soll. Schließlich lassen sich aber auch die mitregierenden Grünen und Kommunisten davon überzeugen, dass nur das Kapital weiß, wie viel Beschäftigung der Wirtschaft gut tut. Am Ende bleibt von dem Ausgangspunkt, per Gesetz mehr Arbeit zu schaffen, ein lächerliches Bußgeld, zahlbar für diejenigen Überstunden, die über den gesetzlich großzügig gewährten „Puffer“ hinausgehen.
In seiner Eigenschaft als Arbeitgeber führt der Staat im Übrigen seiner Wirtschaft richtungsweisend vor, wie er sein Gesetz versteht:
„Zuccarelli (Minister für den öffentlichen Dienst) will die Arbeitszeitverkürzung dazu nutzen, mehr Flexibilität bei den Arbeitszeiten durchzusetzen und den Staatsdienst durch die Umbesetzung von Personal effizienter zu machen, ohne die Zahl der Mitarbeiter zu erhöhen.“ (SZ, 9.2.)
Die französische Regierung selber sieht ihr Gesetz also nicht als „Sachzwang“ zu Neueinstellungen an, sondern betrachtet es als Gelegenheit, Krankenhauspersonal wegzurationalisieren, Postboten intensiver arbeiten zu lassen und ihrem Personal insgesamt mehr abzuverlangen. Damit stellt sie gleichzeitig klar, wie die ganze Sache mit der 35-Stunden-Woche gemeint ist: als Angebot an Frankreichs Unternehmerschaft, durch die effektivere Anwendung der Arbeitskraft den französischen Standort vorwärts zu bringen. Und wenn sich darüber ein Wachstum einstellt, das mit der einen oder anderen Neueinstellung einhergeht, lässt sich das ohne falsche Scham als Erfolg der sozialistischen Regierung und ihres Arbeitsplatzbeschaffungsprogramms feiern.