Aus der Reihe „Was Deutschland bewegt“
Pandemie XV.
Der Wettlauf um den Corona-Impfstoff
Geschäft und Gewalt kümmern sich um die Immunisierung der Menschheit

Da soll noch mal jemand sagen, die Reichen und Mächtigen würden sich nicht um die drängendsten Fragen der Menschheit kümmern! Die im globalen Kapitalismus für „Menschheitsprobleme“ tatsächlich Zuständigen haben sich schon an die Rettung der Menschheit gemacht, bevor die überhaupt so recht gemerkt hat, wie ihr geschieht: Früh genug blitzten die Dollarzeichen in den Augen der Pharmaunternehmer auf, wenn sie an das Ansteckungspotential der neuen Seuche denken; und alle Nationen, die etwas auf sich halten, mischen längst mit im Rennen um den Impfstoff. Sogar an die Armen und Elenden in der 3. Welt haben sie gedacht, wenn sie darum konkurrieren, wer die Welt als Erster mit dem ersehnten Impfstoff beglückt und sich so als Rettungsanker der weltweiten kapitalistischen Normalität von Armut und Wachstum unwiderstehlich macht.

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Systematischer Katalog
Gliederung

Pandemie XV. [1]
Der Wettlauf um den Corona-Impfstoff
Geschäft und Gewalt kümmern sich um die Immunisierung der Menschheit

Die von der neuartigen Seuche überraschte Menschheit wusste noch nicht, wie ihr geschieht, da haben sich in der aufgeklärten Welt des Kapitalismus schon die Profis an die Arbeit zu ihrer Rettung gemacht, wie es sich in ihrem Metier gehört.

Die Pharmaunternehmen

erfahren über den neu entdeckten viralen Krankheitserreger, noch ehe er aus Wuhan ausgebrochen ist, dass er das Zeug dazu hat, sich alsbald über die ganze globalisierte Welt zu verbreiten. Was für eine Gelegenheit! Die Produktivkraft dieses Erregers beschränkt sich nicht auf die armen und elenden Regionen der Welt, wo die Konzerne leider allzu oft ein marktwirtschaftliches Missverhältnis zwischen der dringenden Nachfrage nach ihrer Medizin und der Zahlungsfähigkeit, die aus dem Bedarf erst eine taugliche Geschäftsgelegenheit für sie macht, konstatieren müssen. Ganz schnell stecken sich die Völker Europas und Nordamerikas an und werden in Teilen ziemlich krank davon. Da haben die Konzerne und ihre Shareholder längst Kapital und Kredit im großen Stil mobilisiert und das Know-how ihrer Belegschaften auf die beschleunigte Entwicklung eines Corona-Vakzins verlegt.

Zu den großen Playern des Gewerbes gesellen sich Biotech-Start-Ups aus aller Welt, die sich und ihre philanthropischen Investoren daran bereichern wollen, die Welt möglichst bald mit dem sehnlichst erwarteten Impfstoff einzudecken. Einigermaßen wirksam, dabei gut genug verträglich und zudem transport- bzw. lagerfähig muss das neu zu erfindende Produkt sein, damit es als ‚marktgängiger‘ Kassenschlager gelten darf. Das ist in klinischen Studien aufwendig zu ermitteln und zu beweisen; doch es werden weder Kosten noch Mühen gescheut, in kurzer Zeit hinzubekommen, was sonst Jahre dauert. Die Verlockung eines Riesengeschäfts rechtfertigt die dazu nötigen Vorschüsse und Investitionen allemal – auch solche in einstweilen ergebnisoffene biotechnische Ansätze aus der Grundlagenforschung, aus denen noch nie ein fertiges Arzneimittel geworden ist. Stolz vermelden die einander sonst in Fragen des geistigen Eigentums wenig freundlich gesonnenen Wettbewerber Partnerschaften und Kooperationen für den beschleunigten Fortschritt – im Dienste der privaten Bereicherung, die ihnen reihum winkt. Immerhin können sie mit nicht weniger als einer schier endlosen Nachfrage nach ihrer Medizin rechnen, die ohnehin keiner von ihnen alleine erschöpfend bedienen könnte. Um sie schnellstmöglich ausschöpfen und abkassieren zu können, kümmern sie sich sogleich um die vorauseilende Produktion von zig Millionen Impfdosen pro Monat, lange bevor deren Wirksamkeit und Sicherheit überhaupt feststehen und sie eventuell zugelassen werden.

Die reihum stattfindende Spekulation auf die rechtzeitige Entwicklung des passenden Impfstoffes, die so viel Aufwand und Risiko ökonomisch rechtfertigt, lebt von einer in der Konkurrenz der Kapitalisten eher ungewöhnlichen Sicherheit. Dass sie mit der Präsentation eines biotechnischen Gebrauchswertes zur rechten Zeit über eine Gelddruckmaschine verfügen, die alle getätigten Investitionen und jeden sonstigen Aufwand auf einem quasi nicht zu sättigenden Absatzmarkt garantiert rechtfertigen, verdanken die Unternehmen der Staatenwelt – in doppelter Hinsicht: Erstens ist ihr Adressat ja nicht die kränkelnde Menschheit mit ihrer begrenzten privaten Kaufkraft und labilen Zahlungsmoral, sondern es sind die Staaten, die reichen vorneweg. Die sind ihre extrem zahlungsfähige und -bereite Kundschaft, die ihnen die millionenfache Abnahme ihrer Wundermittel sogar im Voraus vertraglich garantiert. Mit ihren Ansprüchen, ihrer Nachfrage und ihrer Zahlungskraft machen sie den Markt, an dem die Pharmakonzerne so zuverlässig verdienen können. Zweitens stellen dieselben Staaten mit ihren milliardenschweren Abnahmegarantien, Vorauszahlungen, direkten Unternehmensbeteiligungen und allerhand Sonderförderungen wesentliche Teile des notwendigen Risikokapitals gleich selbst bereit, mit dem die Unternehmen in allen kostenträchtigen Phasen der Impfstoffentwicklung, -testung und -produktion wirtschaften. Für beides haben die Staaten ihre ganz eigenen Gründe.

Die kapitalistischen Staaten

haben nämlich recht schnell erkannt, wie ernst es um die Gesundheit ihrer Völker bestellt ist. Für manche von ihnen steht nicht weniger als das Überleben größerer Bevölkerungsteile auf dem Spiel, die in ihrer endemischen Armut nicht überleben können, wenn sie durch Schutzmaßnahmen wie Ausgangssperren daran gehindert werden, sich irgendwie durchzuschlagen, oder ihre prekären Beschäftigungsverhältnisse wegen der Krisenlage ganz gestrichen werden. Die Nationen niederen Ranges, die weder über das einschlägige große Kapital noch über die staatlichen Instanzen verfügen, die sich auf den biochemischen Fortschritt verstehen, können nur darauf hoffen, dass ihre potenteren Kollegen auf der Nordhalbkugel zur Tat schreiten, was die auch längst tun: Für Letztere steht mit der Volksgesundheit immerhin die Tauglichkeit ihrer Bevölkerung für das Wachstum des kapitalistischen Reichtums auf dem Spiel, für den bei ihnen überhaupt gelebt, konsumiert und gearbeitet wird. Die bis dato zum Schutze der Volksgesundheit immer wieder nötigen Einschränkungen des gesellschaftlichen Lebens bis hin zum Lockdown erweisen sich für die zuständigen politischen Instanzen zunehmend als untragbar, weil sie an allen Ecken und Enden konstatieren müssen, wie sehr die im Widerspruch zu den geschätzten Freiheitsrechten stehen, mit denen die Menschen hierzulande sich ausgestattet wissen. In der Sache tangiert ist damit nicht weniger als die Lebensart einer bürgerlichen Konkurrenzgesellschaft – vom Erwerbsleben über die Techniken des Sich-Einrichtens in und des Zurechtkommens mit den damit verbundenen Widrigkeiten bis hin zur Sphäre der Kompensation und des privaten Genusses inklusive des dazugehörenden Rechtsbewusstseins, das freiheitsdurstige bürgerliche Individuen sich reihum zulegen. Das alles ist die Normalität, die das Schutzgut der Politik ist und die sie wiederherstellen will. Ohne einen Impfstoff, der die Krankheitsverläufe und Ansteckungsraten wenigstens so weit dämpft, dass das Infektionsgeschehen wieder kontrollierbar wird und der heimischen Gesamtbevölkerung eine gewisse Resilienz gegenüber den im bürgerlichen Freiheitsstall herrschenden Ansteckungsrisiken verschafft, ist zu ihr nicht zurückzukehren. Was die Normalität des kapitalistischen Alltags der Nation angeht, steht für sie darüber hinaus auch auswärts manches auf dem Spiel: In der europäischen Nachbarschaft wie in der restlichen weiten Welt droht mit dem Fortschreiten der Pandemie der Zusammenbruch von allerlei Absatzmärkten, an denen die Exportnation auch in Zukunft noch gut zu verdienen hat... So sieht er aus, der dieser kapitalistischen Staatenwelt ganz eigene und in ihr einzig praktisch wirksame Grund, weshalb ‚die Menschheit‘ einen Impfstoff, und zwar dalli, benötigt.

Sie kann auch schon bald mit ihm rechnen. Wenigstens Teile von ihr, erst einmal. Dabei kommt es nicht bloß darauf an, wann er endlich erfunden ist, sondern auch darauf, wer zu guter Letzt die Jagd nach dem Impfstoff für sich entscheidet. Denn wo die Pharmakonzerne sich im Sinne ihres privaten Geschäfts um die Entwicklung des Impfstoffes bemühen, stehen auf allen Seiten staatliche Potentaten dahinter, die ihre nationalen Unternehmen mit warp speed finanzieren und protegieren, um zuallererst sich die Verfügung über den Impfstoff zum Schutze ihrer Bevölkerung zu sichern, und die sich aus dem gleichen Grund mit ihrer Macht und ihrem Geld Zugriff auf die Ergebnisse der Spitzenforschung aus anderen Nationen und deren Konzernen zu verschaffen trachten. Grenzüberschreitender Zugriff auf in Aussicht gestellte Impfkontingente zur möglichst raschen Immunisierung der eigenen Bevölkerung wie auch die hoffentlich erfolgreiche Entwicklung eines Impfstoffes durch die ‚eigenen‘ Pharmaunternehmen – beides besorgen die einschlägig engagierten Nationen mit der zivilen Macht ihres Geldes, das sie kraft ihrer staatlichen Hoheit schöpfen. Sie vermögen auf diesem erlesenen Feld der Staatenkonkurrenz letztlich so viel, wie ihre staatliche Kreditmacht im Weltmaßstab hermacht. Entsprechend groß sind nicht nur die Gewinne, die die umgarnten Unternehmen erwarten dürfen – entsprechend groß sind auch die imperialistischen Ansprüche, die diese Staaten mit ihrer immensen Zahlungsbereitschaft an die bestellten Erfolge knüpfen.

Eine Erfolgsmeldung von den ins Rennen geschickten einheimischen Kapitalen verspricht nämlich nicht nur denen ein ungeheures Geschäft und der Nation insgesamt gute Verdienste am prekären Gesundheitszustand der Weltbevölkerung, der man den Impfstoff nach Deckung des Eigenbedarfs selbstverständlich nicht vorenthalten würde. Die möglichst souveräne, nationale Verfügung über das aktuell überall gefragte biotechnische Instrument zur Rückkehr zur Normalität im Leben der Nationen erweist sich darüber hinaus als beachtliches Mittel in Fragen der internationalen Solidarität: Wer über es verfügt, kann anderen Nationen Hilfsangebote unterbreiten, die diese schlecht ablehnen können, wenn sie selbst nicht dazu in der Lage sind, für den Erhalt ihrer völkischen ‚human resources‘ einzustehen. Mit ihren Millionenchargen exportfähiger Arzneimittel bietet sich den Helfernationen die Perspektive, als externe Existenzbedingung fremder Völker in fremde Gemeinwesen eingemischt zu sein und an elementaren Einflussmöglichkeiten auf fremde Souveräne zu gewinnen, also an der Macht, für ‚gute Beziehungen‘ zu sorgen. Das ist der imperialistische Gehalt von Katastrophenhilfe.

Das beweist nicht zuletzt die eifersüchtige Zurückweisung der frühen Erfolgsmeldungen aus Russland und China, die hierzulande keineswegs Anerkennung als Beitrag zur Lösung des Menschheitsproblems genossen haben. Diesen Konkurrenten will man auf keinen Fall durchgehen lassen, aus der Not der Länder in Afrika und anderswo politisch Kapital zu schlagen! Der erste beste Impfstoff gehört unbedingt in die richtigen Hände, also in unsere; und gerade rechtzeitig vermelden die Mainzer Stars von BioNTech Vollzug, sodass die gerechte Verteilung des Impfstoffes schon bald beginnen kann. Auch dafür ist eine Pandemie also gut: Eine Gelegenheit für Deutschland und andere, die etwas auf sich halten, sich als die einzig wahren Nothelfer der hilflosen Abteilung Menschheit zu präsentieren, die sie aus der Corona-Pandemie herauszuführen vermögen. Die Bundesrepublik bewirbt sich auf den Posten einer freundlichen Weltgesundheitsmacht, die sich diese Rolle in der Staatenkonkurrenz auch für künftige Pandemien zu sichern gedenkt. Da trifft es sich gut, dass die andere nationale Forschungsschmiede, CureVac, für die Zukunft bereits einen biogenetischen Instrumentenkasten verspricht, der in kürzester Zeit angepasste Wirkstoffe für die neuesten Erreger mit epidemischem oder gar pandemischem Potenzial liefern könnte, lange bevor die ihren Weg von den Wildtiermärkten oder Laboren rund um die kapitalistisch vernetzte Welt gefunden haben.

Darauf kann die Menschheit zu Recht hoffen: Rettung naht! Es lohnt sich.

[1] Die Kapitel I-XIV unserer Chronik der Corona-Pandemie sind in GegenStandpunkt 2-20 und 3-20 erschienen. Außerdem abrufbar unter: gegenstandpunkt.com/corona