Aus der Reihe „Chronik - kein Kommentar!“
Missglückter Putsch gegen Hugo Chávez oder Das Vergehen des venezolanischen Präsidenten:
Mit dem Kampf um einen ordentlichen Staat lauter Feinde geschaffen

Chávez beschließt ein nationales Aufbruchsprogramm für Venezuela. Dafür bringt er die Organisation von Geld- u. Machtpfründen durcheinander.

Aus der Zeitschrift
Systematischer Katalog
Länder & Abkommen

Missglückter Putsch gegen Hugo Chávez oder Das Vergehen des venezolanischen Präsidenten:
Mit dem Kampf um einen ordentlichen Staat lauter Feinde geschaffen

Die Nachricht, dass der Staatspräsident von Venezuela, Hugo Chávez, nach mehrtägigen Streiks und Demonstrationen von Unternehmerverbänden und Gewerkschaften durch das venezolanische Militär festgenommen und abgesetzt worden sei, wird hierzulande zunächst mit Befriedigung als längst überfällig zur Kenntnis genommen:

„Der Traum ist ausgeträumt, die bolivarische Revolution von Venezuelas Präsident Hugo Chávez ist nach knapp drei Jahren gescheitert.“ (SZ 13.4.02 )

Dass der Regierungswechsel in nicht ganz rechtsstaatlich-korrekter Weise herbeigeführt wurde, mittels Putsch, unter nur nachlässig dementierter Beihilfe der USA, ist nur Anlass zu ein bisschen ironischer Nostalgie und Neid auf die „einfachen Lösungen“, die den USA in ihrem engsten Zuständigkeitsbereich immer noch zur Verfügung stehen:

„Ach, wenn nur alles so einfach wäre wie in Venezuela. In Amerikas Hinterhof lassen sich die Dinge auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts noch immer wie in alten Zeiten regeln. Hier, im Süden des Kontinents, findet Washington alle Mal einen General oder Geschäftsmann… und flugs ist dann ein ungeliebtes und gescheitertes Regime gestürzt…“ (SZ 15.4.)

So salopp reden demokratische Öffentlichkeitsarbeiter über das Abservieren eines gewählten Präsidenten, wenn der sich über längere Zeit als „weltpolitischer Störenfried“ und „Unsicherheitsfaktor in Lateinamerika“, unbeliebt gemacht hat. Und sie hätten das exotische Intermezzo Chávez auch bald wieder zu den Akten gelegt, wenn denn seine Ablösung so geklappt hätte, wie es zunächst den Anschein hatte. Stattdessen aber kehrt die größte Nervensäge Lateinamerikas (Der Spiegel) zurück, da seine Anhänger noch massenhafter für ihn demonstrieren als seine Gegner gegen ihn, und – vor allem – wichtige Teile des Militärs sich auf seine Seite schlagen.

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Seine Gegner im In- und Ausland titulieren ihn abwechselnd als Psychopathen, Populisten, durchgeknallten Nationalisten oder kubafreundlichen Kommunisten. Und das alles nur, weil der Chef der Venezolaner glaubt, mit dem bisher gut funktionierenden Erdöllieferanten Venezuela etwas Neues anfangen zu müssen? Es fragt sich, warum die Welt eigentlich so genervt ist von seinem „Plan Bolivar“, dem gemäß aus dem viertgrößten Ölexportland der Welt endlich ein richtig ordentlicher Staat werden soll. An seinem Programm, sollte man meinen, kann es nicht liegen, dass der Mann weltweit eine so schlechte Presse hat:

„Wir wollen ein Modell entwickeln, in dem ein effizient agierender Staat und ein gesunder Markt verbunden werden, um eine wirkliche soziale Entwicklung der ganzen Gesellschaft zu fördern und nicht nur das Wohlergehen einer kleinen Gruppe. Unser Vorbild könnte am ehesten der Rheinische Kapitalismus sein… Wir werden die Privatisierungen im Energiesektor und der staatlichen Aluminiumindustrie vorantreiben … pragmatisch und nicht dogmatisch. Auf keinen Fall wollen wir etwas verstaatlichen, das sind Erfindungen unserer politischen Gegner.“ (Die Woche, 30.9.99)

Auch wenn vom Standpunkt der imperialistischen Führungsstaaten die Vorstellung etwas Lächerliches haben mag, dass ein exotischer Obrist und Ex-Putschist in Lateinamerika rund um seine Ölquellen die Einrichtung eines Musterlandes nach deutschem Vorbild plant; warum sollte man gegen derlei wohlmeinende Flausen etwas haben und ihn nicht machen lassen? Noch dazu, wenn er verspricht, endlich auf „gutes Regieren“ zu achten und die „Korruption“ zu bekämpfen, die bisher den Reichtum Venezuelas verschleudert haben soll:

„…wir haben in den letzten 20 Jahren 50 mal so viel ausgegeben wie damals in Europa für den Marshall-Plan …, das alles wurde verbraucht, will sagen geraubt, vergeudet, und trotzdem sind wir eines der am meisten verschuldeten Länder der Welt, mit einer Elendsrate von 80% und einer Arbeitslosigkeit von 25%“ (L. Miquilena, Präsident der Verfassunggebenden Nationalversammlung, El País, 27.8.01)

Verlangt man nicht heutzutage solch „ehrliche Bestandsaufnahmen“ und „entschlossene Erklärungen“ von den Regimes der „Dritten Welt“ als Voraussetzung dafür, dass „wir“ sie lieb haben?

Auch an dem, wie die Regierung Chávez zu Werke geht, ist – eigentlich – kein rechter Grund für Feindschaft zu entdecken: Zwar bemüht sie sich, verbesserte Konditionen beim Ölverkauf sicherzustellen und wird darüber zum Aktivisten der OPEC. Chávez agitiert aber ausdrücklich nicht dafür, von der „Ölwaffe“ Gebrauch zu machen. Er teilt vielmehr den modernen „Realismus“ der Mehrheit der OPEC-Mitglieder, die zwar ihren Anteil am Ölpreis steigern und stabilisieren, ihre Kundschaft aber preislich keinesfalls überstrapazieren wollen, insoweit also wissen, dass die „Ölwaffe“ keine ist. Am Respekt vor dem privaten Eigentum fehlt es der Regierung der Chavisten auch nicht: Verstaatlichung soll nicht sein, über die der Erdölindustrie hinaus, die schon 1976, also lange vor Chávez Zeiten, gelaufen ist; der Versuch einer Reform der „korrupten“ Gewerkschaften ist in einem Land mit nur 1 Million Gewerkschaftsmitgliedern, bei 22 Millionen Einwohnern, eher Bestandteil des grundsätzlich lobenswerten „Antikorruptionskampfes“ als einer umstürzenden „Reform der Arbeitswelt“; außerdem wurde sie auch der Form nach, per – fehlgeschlagenem – Referendum, so demokratisch höflich angegangen, dass ihr ebenso wenig antikapitalistisch Umstürzlerisches anhaftet wie dem Bau von ein paar Straßen, Schulen, Krankenstationen und Armenküchen für die vielen Elenden im Lande oder der erstmaligen katastermäßigen Erfassung venezolanischen Grundeigentums.

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Mit all diesen gar nicht so revolutionären Aktivitäten ist aber in Venezuela, wie man in den letzten Jahren verfolgen konnte, ein politischer Kampf eröffnet worden, der zu einer schweren „innenpolitischen Krise“, sogar einer „Verfassungskrise“ geführt und das Land dauerhaft „politisch destabilisiert“ haben soll (Fischer Weltalmanach, 2001). Die Chávez-Partei legt sich nach ihrem Wahlsieg im Zuge ihres Kampf um „gutes Regieren“ mit allen Interessen und Institutionen des „alten“ Venezuela an. Und das allein schon durch die Übernahme der Regierung anstelle der bisherigen beiden Traditionsparteien, die dieses Geschäft bislang im Wechsel untereinander ausgemacht hatten. Die Zuständigkeit für die Amtsgeschäfte schließt eben die Verfügung der neuen politischen Herren über den Reichtum und die laufenden Einkünfte der Nation ein, die Chávez in den Händen der alten Machtclique verbraucht, geraubt und vergeudet sah. Was er als „Korruption“ des alten Systems bekämpft, ist schlicht die bisherige Aufteilung des Staatseinkommens, vor allem der Erträge des Ölgeschäfts: Die erfolgte zwischen den bisherigen Regierungsparteien und der sie tragenden „Oligarchie“ in der Form von Haushaltstiteln, von politisch vergebenen Beteiligungs- und Geschäftsgelegenheiten und gut dotierten Posten; die alte Führungsschicht bestimmte die Chefs der staatlichen Ölkonzerne aus ihren Reihen, die wiederum den geschäftsmäßigen Kosten- und Investitionsbedarf dieses florierenden Industriezweiges festlegten, und hatte damit die Kontrolle über die wichtigste Weltgeldquelle des Landes. So wurden jahrzehntelang die Erträge des venezolanischen Ölreichtums verplant und die auf ihn gerichteten national und international gültigen Ansprüche zufrieden gestellt: Immerhin brachte es Venezuela auf diese Art unter die Top-Five der Erdölförderländer und zum wichtigen Hoflieferanten der USA. Das war der nationale Erfolgsweg Venezuelas, an dessen Rändern das Elend der Massen eine landesübliche Begleiterscheinung war.

Mit der Übernahme der Regierung durch Chávez’ „Polo Patriótico“ ist der Machtkampf um die Fortdauer der alten Reichtumsverteilung eröffnet, die unter dem Titel „Korruption“ zum nationalen Problem Nr.1 ernannt wird. Der Antikorruptionskampf ist ein politischer Angriff auf die bisher über das Öl und seine Erträge verfügenden Cliquen und Familien und ihre Ressourcen, der auch als erbitterter Streit mit den staatlichen Erdölgesellschaften geführt wird, die mit den Abgaben auf ihre Gewinne zu ca. 50% den Teil des politisch verteilten Reichtums liefert, der als Staatshaushalt figuriert. Die größte von ihnen, die PdVSA, gehört zu den großen Erdölkonzernen weltweit. Sie verfügt über eine eigene Tankerflotte, ein umfangreiches Tankstellennetz in den USA („CITGO“) und betreibt Joint Ventures mit anderen Ölproduzenten und -vermarktern wie der deutschen VEBA OIL AG. Da ist also einiges zu holen, und die Chávez-Mannschaft zögert nicht, die bisher geraubten und verschleuderten Abgaben jetzt ihrem, dem neuen Antikorruptionshaushalt“, gutzuschreiben.

Der ist umso mehr auf die Beiträge aus dem nationalen Ölgeschäft angewiesen, weil die Staatseinkünfte aus sonstiger Geschäftstätigkeit in Venezuela nachlassen:

Allein in 1999 „schrumpft das Bruttosozialprodukt des erdölreichen Landes um über 7%, obgleich sich seit dem zweiten Halbjahr 1998 die Rohölpreise verdreifacht haben; …bedingt durch die instabile politische und wirtschaftliche Lage … gingen die ausländischen Direktinvestitionen um mehr als die Hälfte zurück, während gleichzeitig eine massive Kapitalflucht sowie die Abwanderung von Unternehmen und qualifizierten Arbeitskräften zu beobachten ist…“ (Fischer Weltalmanach, ebd.)

Das politische Getümmel, das der Machtübernahme der Chavisten folgte – mit Notstandsgesetzen, Entmachtung des alten Parlaments, neuer Verfassung und der Ablösung der persönlichen Garanten altbewährter Geschäftsbeziehungen – hat also die Lage so instabil, d.h. den alten Erfolgsweg Venezuelas als zuverlässige Ölquelle für den kapitalistischen Weltbedarf so zweifelhaft gemacht, dass, abgesehen vom krisenhaften Zustand manchen Geschäftes weltweit, auch in und für Venezuela weniger verdient wurde. Zum Ausgleich verlangt Chávez von den Konzernen zunehmend höhere Gewinnabgaben, was wiederum Kosten macht, die von den bislang anders verplanten Gewinnen der Erdölindustrie abgehen. Zunehmend wird die PdVSA zur Milchkuh der Nation, – wessen „Milchkuh“ sollte sie eigentlich sonst sein?! –, bemerken wirtschaftskundige Beobachter mit deutlich kritischem Unterton (NZZ, 11.12.99), und sie finden die „politischen Eingriffe“ in das wichtigste Geschäft der Nation, das schon immer unter politischer Kuratel stand, für dessen Bestand zunehmend gefährlich: Gewinne gehören reinvestiert und nicht zu Gunsten Not leidender Staatsbudgets abgezweigt, die im Zweifel, insbesondere, wenn sich ungeliebte politische Zwecke daraus bedienen, zurückzustehen haben. Das gilt vor allem dann, wenn die Verwendung öffentlicher Gelder, etwa in den Abteilungen Elendsfürsorge, ohnehin dem Verdacht unterliegt, nur dem berechnenden „Populismus“ des neuen Chefs – wg. Bestechung von Wählermassen – zu dienen. Wird so, wie gegenwärtig von der Regierung Chávez, mit den Gewinnen der Ölindustrie verfahren, dann sind unweigerlich auf die Dauer happige Kürzungen im Investitionsbudget und Produktionsbeschränkungen in Kauf zu nehmen (NZZ, ebd.). Die Regierung führt den Streit mit ständiger Entlassung und Neueinsetzung der Führungsmannschaften der Ölkonzerne, ohne die Versöhnung ihrer staatlichen Ansprüche an die nationale Ölindustrie mit deren Geschäftsinteressen zu erreichen. So züchtet Chávez sich zahlreiche und einflussreiche Gegner, die gegen die neue, von der Chávez-Regierung ausgehende, und ihnen jetzt gar nicht mehr genehme „Politisierung“ der Ölwirtschaft Widerstand leisten, während gleichzeitig Investitionen zur Renovierung wie Modernisierung der Förderanlagen für schwere Rohöle verschoben werden, also die Geldquelle der neuen Regierung geschwächt wird.

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Die Klasse der nationalen und internationalen Geschäftemacher in und außerhalb der Ölbranche ist Chávez und seinem aufgeregten Reformgetue ohnehin nicht grün. Einen Teil von ihnen hat er durch seinen Wahlsieg und die folgende Verdrängung aus den Positionen, die über die Öldollars bestimmten, von ihren Einkünften abgeschnitten und sich schon deshalb zu Todfeinden gemacht. Diejenigen, die außer Regieren noch andere Geschäfte betrieben haben, weiterbetreiben und dafür Angestellte benutzen, will er mit einem gesetzlichen Mindestlohn auf die Ernährung ihrer Dienstleute verpflichten. Das verstehen die Unternehmer konsequent als Angriff auf angestammte Rechtspositionen, ihr Eigentum und sämtliche Kalkulationsgrundlagen ihres Geschäftes. Ausgerechnet ihnen, die nur dort produzieren, weil Billiglöhne zusammen mit staatlichen Zuwendungen, die ihnen über den Einfluss der alten Parteien sicher waren, ihre Produktion so rentabel machen, wie sie ist, will Chávez Löhne aufdrücken, die vielleicht einen Arbeiter in Venezuela ernähren könnten, dafür aber das Überleben bisheriger Gewinnkalkulationen fraglich machen. So ziehen die Verwalter des auch von den Chávez-Leuten respektierten Privateigentums 40 Milliarden Dollar von diesem Eigentum aus Venezuela ab und treten, scheu wie das sprichwörtliche Reh, trotz aller Auflagen der Regierung gegen Gewinntransfer und „Kapitalflucht“ eben diese „Flucht“ aus dem „unruhigen Land“ an.

Wie soll man auch als Geschäftsmann jemandem trauen, der versucht, Banken zur Kreditvergabe an kreditunwürdige Kunden aus Landwirtschaft und Handwerk zu Niedrigzinsen zu bewegen, nicht davon ablässt, immer wieder ein paar Sozialprogramme für eine vom Geschäftsstandpunkt überflüssige Bevölkerung zu lancieren, die Armee zum Straßenbauen schickt, den „1,5% der Bevölkerung stellenden Indianern 54% des Staatsgebietes zuspricht“ (Fischer Weltalmanach, ebd.) und sich nebenbei Gebietsansprüche gegen die Nachbarstaaten Kolumbien und Guyana in die Verfassung schreibt!? Der Rest der Welt, die das Treiben in dem Land beobachtet, das sich bisher eher unauffällig um die Produktion von Öl und Schönheitsköniginnen verdient gemacht hat, attestiert seinem Chef bald pathologische Züge: Der spinnt, der Chávez! Und im In- und Ausland werden die Möglichkeiten gewälzt, wie und ob man den Verrückten durch eine Entmündigung loswerden könnte.

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Mit der Landreform von Chávez kommt es erstmalig zu einer grundbuchmäßigen Erfassung venezolanischen Grund und Bodens. Mit ihr sollen in Venezuela die in rechtlicher Hinsicht „ungeordneten“ Zustände bei der Verteilung des Bodens, die die alten Grundbesitzer natürlich schon immer schwer in Ordnung fanden, vom Ruch der „Korruption“ und Gesetzlosigkeit befreit und neue Rechtsverhältnisse hergestellt werden. Der bisher willkürliche Zugriff der Großgrundbesitzer auf „ihre“ Ländereien wird dadurch nachträglich genehmigt und die mittels privater Gewalt und staatlicher Duldung zustande gekommene „tatsächliche Sachherrschaft“ in feste Eigentumstitel überführt. Alle Bauern, die das „ley de tierras“ als Aufforderung ihres obersten Chefs missverstehen, sich brachliegenden Landes zur Bearbeitung und Erwirtschaftung eines Lebensunterhaltes zu bemächtigen, werden von der Armee wieder vertrieben. Mit diesem Schritt wird einerseits Rechtssicherheit für diejenigen hergestellt, die sich das bebaubare Land ohnehin schon angeeignet haben. Andererseits wird der Ausschluss des großen Restes von Bauern vom großen und qualitativ guten Bodeneigentum festgeschrieben. Übrig gebliebene, also rechtlich herrenlose schlechte Böden, werden ihnen als Eigentum überlassen, wenn sie sie bearbeiten wollen, können ihnen also auch nicht mehr – jedenfalls nicht von Rechtes wegen – einfach, wie früher, von den Großgrundbesitzern weggenommen werden. Das Moment von Beschränkung, das dieses Verfahren für die Großgrundbesitzer von deren anspruchsvollen Standpunkt aus mit sich bringt, wenn sie nicht mehr einfach alles Land nach Belieben in die Nutzung einbeziehen oder liegen lassen können, ohne Gefahr zu laufen, es an Kleinbauern zu verlieren, bringt die Latifundistas auf die Palme. Chávez’ Regelung des Grundeigentums, von der er sich neben der Stiftung eines ordentlichen Bodenrechts offenbar eine intensivere Ausnutzung der verfügbaren Flächen und einen Lebensunterhalt für ein paar Subsistenz-Siedler verspricht, tritt ihnen als eine einzige Verschlechterung ihrer alten Positionen, also von Grund auf feindlich, gegenüber. Bisher hatte niemand an ihrem Recht auf „ihr“ Land gezweifelt, und wenn doch, kam es auf die formelle Seite der Sache nicht so an: Entweder sie schufen es sich selber mit privater Gewalt oder hatten verlässlichen Rückhalt in der des Staates. Jetzt sehen sich die Landherren von der Reform in ihrer freien Verfügung über bisher brachliegende Flächen beschränkt, die nun teilweise als „herrenlos“ im Rechtssinn definiert werden, und müssen sich, wenn sie darauf zugreifen wollen, mit vielleicht schon darauf sitzenden Hungerleidern und ihren staatlich begründeten Rechtsansprüchen herumschlagen. So wird für die Großgrundbesitzer Venezuelas die Landreform zu einem einzigen Anschlag auf ihre angestammten „Rechte“. Und ausgerechnet die eigentumsrechtliche Erfassung von Grund und Boden verstehen sie als Enteignung ihrer Ansprüche, die Chávez ihren herzlichen Hass einbringt.

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Bestandteil des herkömmlichen venezolanischen Reichtumsverteilungssystems waren bis zur Machtübernahme durch Chávez auch die Gewerkschaften (CTV). Ihre Mitglieder rekrutieren sie vornehmlich aus den, im Vergleich zum Rest der Bevölkerung, der ohnehin überwiegend ohne Lohneinkommen ist, relativ gut bezahlten Arbeitern der Erdölindustrie. Die Gewerkschaftsführung ist traditionell Bestandteil des gut versorgten Führungsklüngels der Ölindustrie und nimmt in vertrauensvoller Zusammenarbeit mit der Konzernleitung an der Bereicherung durch Petrodollars teil. Darüber hinaus verwalteten die Gewerkschaften bislang im Staatsauftrag die aus Beiträgen ihrer Mitglieder gespeisten Alters-, Kranken- und Arbeitslosenkassen und hielten sich für ihre sozialen Taten an diesen Kassen schadlos. Im Zuge des politischen Angriffs der neuen Regierungspartei auf die bestehenden Methoden der Verteilung öffentlicher Gelder im Land unter dem Banner der Korruptionsbekämpfung geraten auch die Gewerkschaften in die Schusslinie. Die verteidigen ihrerseits ihre überkommenen Rechte und Versorgungsansprüche, und werden über dem Umgang der Chávez-Regierung mit „ihrer“ Ölindustrie, der Branche, von der sie bisher gut gelebt haben, zu Feinden der neuen Herren. Chávez sieht in den alten Gewerkschaften eine Hochburg der Korruption und ein Agitations- und Organisationszentrum antichavistischer Aktivitäten, was für ihn ohnehin ungefähr auf das Gleiche hinausläuft. Deshalb beschließt er, die jetzigen Gewerkschaften auszulöschen. Entgegen dieser militanten politischen Ankündigung startet er im Jahr 2000 ganz demokratisch ein landesweites Referendum, bei dem die Bevölkerung, unter Aufsicht der Wahlbehörde, befragt wird, ob sie einverstanden sei mit der Erneuerung der Gewerkschaftsführung. Das geht, wie schon erwähnt, nicht gut aus für den Veranstalter des Referendums: Es kommt keine Mehrheit für die Gewerkschaftsreform zustande, wegen des Desinteresses des Wahlvolkes an dem Thema. Das ist überwiegend damit beschäftigt, um ein Überleben zu kämpfen, mit dem aus seiner Sicht weder die „korrupten Gewerkschaften“ noch die staatsmoralische Agitation der Chavisten etwas zu schaffen haben. Nur 350000 von 11,7 Millionen Stimmberechtigten stimmen ab, und am Ende bleibt die alte Mannschaft am Ruder und verbündet sich mit der Arbeitgebervereinigung (Federcameras) zu einem Aktionsbündnis gegen Chávez, um ihn irgendwann mit Kampfmaßnahmen bis hin zum Generalstreik zu stürzen. So kommt es dann, dass sich im Land ein „breiter Widerstand der Bevölkerung“ zusammenfindet, um mit den ‚undemokratischen Machenschaften‘ des Präsidenten aufzuräumen.

Die freien Medien in und außerhalb Venezuelas, die sonst viel gegen „Korruption“ in „Entwicklungsländern“ haben, weil die immer als „schlechtes Regieren“ deren „Entwicklung“ verhindert, werten den Versuch, die alten Gewerkschaften auszuschalten, als einen weiteren Schritt in der von Chávez bewirkten Destabilisierung des Landes. Sie ordnen dieses Stück „Korruptionsbekämpfung“ deshalb ein als einen Anschlag auf das Grundrecht der „Koalitionsfreiheit“, der das unruhige Venezuela noch mehr durcheinander bringt. Die Interessenkoalition von Arbeitgebern und Gewerkschaften gegen Chávez wird darüber zum Beweis dafür, dass sein Sturz nun wirklich vom ganzen Volk herbeigesehnt und deswegen immer dringlicher und unvermeidbarer wird. Damit ist seine demokratische Legitimation durch die erst im Jahr 2000 klar gewonnen Wahlen, denen man im freien Westen ohnehin nie traut, wenn der Falsche gewinnt, für „uns“ endgültig im Eimer. Da kann Chávez so viel Demokratie organisieren wie er will.

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Auf diesem Feld entfaltet der neue Chef der Venezolaner nämlich vielfältige Aktivitäten. Seinen politischen Kampf gegen die „Korruption“ der alten Parteien und für die gute Regierung seines Polo Patriótico muss Chávez nach der Präsidentenwahl mit allerlei taktischen Manövern gegen das mehrheitlich noch von den alten Parteien beherrschte Parlament durchsetzen. Mit Notstandsgesetzen entmachtet er das Parlament, lässt eine von seinem Verein beherrschte verfassunggebende Versammlung ein Grundgesetz ausarbeiten, sorgt mit einer Kampagne gegen die „Korruption im Justizwesen“ dafür, dass der Oberste Gerichtshof die Verfassungsklagen der Opposition zurückweist, bringt mit über 70% seine neue Verfassung bei den Wählern durch, womit praktischerweise gleich das alte Parlament abgeschafft ist, und gewinnt im Juli 2000 mit 60% die nächsten Präsidentenwahlen.

In der Auseinandersetzung mit den alten Parteien zieht er das Wahlvolk auf seine Seite und lässt es beim Verfassungsreferendum nicht nur über die üblichen Grund- und Menschenrechte abstimmen, sondern gleich über mehrere hundert Verfassungsartikel, die der Beschränkung der Wochenarbeitszeit, den Mindestlöhnen und dem Verbot der Privatisierung von Rentenfonds ebenso „Verfassungsrang“ verleihen wie dem Verbot der Folter – und all das zum ausdrücklich durch Abstimmung bestätigten Wunsch des venezolanischen Volkes und seines Führers machen.

Die Unterstützung des Volkes gegen die zunächst politisch besiegte Konkurrenz soll durch eine möglichst enge politische Anbindung des Wahlvolkes an die Reformregierung der Chavisten gesichert werden: Mit einer ganzen Menge demokratischer Verfahren und Institutionen, etwa einer neuen Wahlaufsichtsbehörde (el poder electoral), vier Arten von Volksabstimmungen und einem Gremium zur Überwachung der Ausführung von Gesetzen (el poder moral), soll nicht nur ständig zwischen der staatlichen Gewalt und dem wählenden Bürger „vermittelt“, sondern möglichst eine Art ständiges „Auftragsverhältnis“ gestiftet werden. Chávez stellt sich mit al dem als ein wirklicher Volksbeauftragter dar, der sich gleich sieben mal in zwei Jahren mit Abstimmungen und Wahlen seinen Kurs vom Volk bestätigen lässt und angeblich genau das ausführt, was das Volk ihm aufträgt. So viel abstimmungsfreudige Demokratie – mit zunächst anhaltenden Erfolgen der Regierung Chávez – verstehen die konkurrierenden „demokratischen Kräfte“ im Inland genau so, wie sie gemeint ist: als Versuch, sie dauerhaft von der Macht zu verdrängen und den alten „Pluralismus“ der Traditionsparteien zu Gunsten einer haltbaren Regierung des Polo Patriótico abzulösen. Und bei den misstrauischen ausländischen Beobachtern wird der Verdacht genährt, die „politische Kultur“ Venezuelas, gegen die man bislang keine prinzipiellen Einwände hatte, werde von Seiten der Chávez-Leute einem Prozess der „undemokratischen Gleichschaltung“ unterworfen

Bei alledem ist die eigentliche Machtbasis der „bolivarischen“ Regierung immer noch das Militär, dessen Angehörige unter Chávez erstmals in der Geschichte des Landes das Wahlrecht erhalten und den Staats- und Regierungschef mehrheitlich als einen der ihren betrachten. Die Mitglieder der bewaffneten Macht werden aber nicht nur zu neuen Wahlbürgern ernannt. Chávez nimmt sie auf verschiedene Weise als Stütze seiner Regierung in Anspruch: Als Figuren, die sein Vertrauen genießen – und um sie an sich zu binden –, betraut er Militärs mit hohen Posten in Regierung und Verwaltung an Stelle der generell unter Bestechungsverdacht stehenden alten Amtsinhaber und lässt Teile der Armee zum Bau von Straßen, Sozialstationen und zur Durchführung von Impfaktionen antreten. Diese neue Funktionalisierung der Streitkräfte trägt den politischen Kampf um ein besser regiertes Venezuela auch in die Reihen der Truppe und bewirkt die entsprechende Lagerbildung innerhalb ihrer Bestandteile. Mit der Verteilung der Kräfte innerhalb der bewaffneten Macht steht und fällt die Regierung, wie sich an dem Putsch gegen Chávez und seinem schnellen Comeback zeigt.

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Chávez hat mit seinem Wahlsieg für ein neues, saubereres und gerechteres Regieren in Venezuela, von dessen landesüblicher „Unsauberkeit“ und „Ungerechtigkeit“ sich an maßgeblicher Stelle im In- und Ausland eigentlich niemand gestört gefühlt hatte, angesichts der ordentlichen Leistungen dieses Öllandes für den Fortgang der Weltwirtschaft, die Verhältnisse ziemlich durcheinander gebracht. Schließlich gibt es in den Hauptstädten des Imperialismus kein Interesse daran, dass überall weltweit Kopien der kapitalistischen Erfolgsnationen entstehen sollten, mit staatlicher Souveränität über eine rechtsstaatlich geregelte Eigentumsordnung und florierender Konkurrenz freier und gleicher Eigentümerpersönlichkeiten. Das richtet sich vielmehr auf funktionale Verhältnisse anderswo, und dieses Interesse wird durchaus, wie im Falle Venezuelas, bestens bedient mit einer einheimischen Oligarchie, die die Verhältnisse im gewünschten Sinne regelt und sich dafür den für die Nation abfallenden Teil des Reichtums aneignet. Wenn in solch „wohl geordneten“ Verhältnissen des internationalen Kapitalismus eine Figur auftritt, die ernsthaft den Standpunkt von „good governance“ verfolgt, welche erst noch hergestellt werden müsste, dafür die Zustimmung der Massen erringt, an die Regierung kommt und durch die Neuorganisation bisheriger Reichtumsverteilung die bestehenden gedeihlichen Beziehungen gefährdet: Dann sind die Betreuer der globalen Geschäftsordnung „not amused“ und trachten nach baldiger Beendigung solcher Störung.

Das umso mehr, als Chávez nicht nur ein wichtiges Ölland der „westlichen Hemisphäre“ in Unruhe versetzt und bewährte Berechnungen, die sich darauf richten, unsicher gemacht hat. Er macht sich durch seinen nationalistisch-selbstbewussten Umgang mit den gültigen Regeln imperialistischer „political correctness“ als ausgesprochen unberechenbarer Typ verdächtig, dem man noch viel Schlimmeres zutrauen kann:

Schließlich hat er, wohl um deren Ächtung wissend, als OPEC-Aktivist einige der Lieblingsfeindstaaten der USA besucht, Libyen und den Irak, und das mitten im „Antiterrorkrieg“. Er lässt sich den Umgang mit dem alten Antiamerikaner Castro nicht verbieten, liefert dem unverbesserlichen Erzkommunisten sogar verbilligtes Erdöl im Gegenzug für die Dienste kubanischer Ärzte und Lehrer in Venezuela und zeigt darüber hinaus auch noch Sympathien für die kolumbianischen Guerillas von der FARC. Diese Liste innen- und weltpolitischen Fehlverhaltens genügt für die USA, eine vorzeitige Ablösung Chávez’ zu unterstützen, um mit einer neuen und „seriöseren“ Führung des Landes die Verhältnisse wieder zu beruhigen. Auch wenn die Sache vorerst nicht zum gewünschten Abschluss kommt: Es wird wohl weiter daran gearbeitet.