„Wächst jetzt zusammen, was zusammen gehört?“
Deutsche Ideologien zur Wiedervereinigung

‚Geschichte‘, ‚Identität‘, ‚Verantwortung‘, ‚Stimmung‘…: Bilder verleihen dem erfolgreichen imperialistischen Eroberungsinteresse die höhere Weihe

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„Wächst jetzt zusammen, was zusammen gehört?“
Deutsche Ideologien zur Wiedervereinigung

Geschichte

Im Grunde fing die Sache eher harmlos an: Mit einem Zug, den der ranghöchste Bahnhofsvorsteher der Republik vorbeirollen sah. Der Zug war aber ein ganz besonderer Zug, denn er fuhr nach „Einheit“, und in seinen Fenstern stand in deutscher Sprache eine höchst ungewöhnliche Aufforderung geschrieben: Das Aufspringen während der Fahrt ist ausdrücklich geboten! Da erkannte Helmut Kohl:

„Wenn wir es jetzt nicht packen, auf den Zug zur Einheit aufzuspringen, wird es sehr lange dauern, bis der Zug wieder durch den Bahnhof rollt.“ (14.5.90)

Seltsam: Sollten tatsächlich all die so angeredeten „Wirs“ sehnsüchtig auf diesen Zug gewartet haben? Wäre es wirklich – wiederum für jeden einzelnen – so schlimm gewesen, ihn zu verpassen? Konnten wir uns deshalb diesem flammenden Appell nicht entziehen?

Noch seltsamer: Der Zug wurde bereits vor 40 Jahren bestellt – von unseren Vätern, als sie gerade das Grundgesetz machten. Vorsorglich und gratis reserviert für „das gesamte deutsche Volk“, also für Millionen von Platzkarteninhabern, die nichts als einen bundesdeutschen Paß vorzeigen müssen! Wo gibt’s denn sowas?

Am seltsamsten: Untertanen eines bestimmten östlichen „Unrechtsregimes“ bekommen beim Aufspringen ein solches Karton ausgestellt – denn DDR-Tickets sind auf der Reise in den „Bahnhof der Geschichte“ streng verfassungswidrig.

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2 Monate später. Trotz aller Ungereimtheiten ist es Kohl gelungen, den Zug nach Bonn zu dirigieren:

„Der Zug der deutschen Einheit fährt jetzt langsam durch den Bahnhof der Geschichte.“ (18.6.90)

Jetzt können sich selbst professionelle Skeptiker dem zutiefst deutschen Atem der Historie, der mantelgleich durch unser Land bläst, nicht mehr entziehen. Nur bevorzugen sie’s eher nautisch:

„Aber nun, da die Geschichte uns unverhofft die Chance der Vereinigung an unsere Gestade gespült hat…“ (Theo Sommer, Zeit),

…müssen wir sie natürlich auch wahrnehmen!

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Absurde Metaphern? Sicher. Sprachliche Entgleisungen von „Birne“ und seinen Hofschreibern? Kaum. Denn in all ihrer hirnrissigen Schönheit erfüllen Zug & Mantel, Atem & Geschichte die sehr politische Funktion, die präambelmäßig festgeschriebene Staatsräson der demokratisch-kapitalistischen Bundesrepublik in das Objekt eines höheren Imperativs umzulügen. „Revanchismus“? Penetranter Anspruch auf Revision des Kriegsergebnisses? Quatsch: Eine historische Notwendigkeit, die endlich ihren verdienten Zuschlag erhält! Der Trick ist durchsichtig, aber wirksam: Gerade indem der „Kanzler der Einheit“ sich bescheiden ganz klein macht und „nur“ den Vollzugsbeamten der Geschichte mimt, erhebt er die Vergrößerung der Nation unter der Flagge der Freiheit in den Rang eines unabdingbaren und unwidersprechlichen Auftrags, den „wir“ als gute Deutsche natürlich pflichtschuldigst exekutieren! (Übrigens: Wie hieß nochmal der einschlägige terminus technicus beim Führer? Ach ja: „Vorsehung“.)

Identität

Wir sind auf der Suche nach uns selbst. Veröffentlichte Bekenntnisse zur „deutschen Identität“ haben nach dem Fall der Mauer Hochkonjunktur. Dokumente, die bei Lichte betrachtet allerdings eher beweisen, daß dieses Ding weder mit Wiedersehensfreude noch mit natürlicher Zusammengehörigkeit zu verwechseln ist.

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Ein Geschichtsprofessor klagt nach Abschluß des „Einigungsvertrages“, der den Beitritt allen lebendigen und toten DDR-Inventars zur Bundesrepublik besiegelt: Deutschland ist eine Nation, die keine sein will (Christian Meier, München 1991). Keinem gefällt’s? Macht nichts, Nation fällt eh unter „höhere Gewalt“:

„Es liegt nicht in der Wahl der Deutschen, ob sie eine Nation sein wollen – sie müssen es. Daher ist vielerlei Arbeit an der mentalen Infrastruktur der Deutschen notwendig.“

Jemanden davon überzeugen, daß er wollen soll, was er muß? Welch makabre Einsicht ins mentale Innenleben eines nationalistisch bearbeiteten Hirns!

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Modalverben sind fürs nationale Denken überhaupt von hohem Nutzen. Die Deutschen wollen und dürfen eine Nation sein, hat Kollege Nipperdey für die FAZ herausgefunden. Weil damit aber, nüchtern betrachtet, lediglich das nationale Interesse und das internationale Kräfteverhältnis benannt sind, das dem Nato-Mitglied BRD seine Erweiterung gestattete, muß noch ein Müssen her – so eine Art überstaatlicher Weltgeist, den es gleich vierfach nach Deutschland dürstet:

„Das neue einig Vaterland entspricht der historischen und moralischen, der politischen und praktischen Vernunft.“ (13.7.90)

Wer wollte sich dem noch entziehen?

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Eine junge Deutsche demonstriert in einer ZDF-Talkshow, daß patriotische Ergriffenheit, pardon: politisch-moralische Vernunft, auch außerhalb der Uni zu erlernen ist:

„Ich bin stolz, daß ich hier geboren bin. Ich könnte mir nicht vorstellen, woanders geboren zu sein, etwa in Italien oder Griechenland“.

Die Nation als Gemeinschaft, mit deren Unternehmungen es sich zu identifizieren gilt – ganz jenseits des kleinen Gegensatzes zwischen oben und unten, Staat und Bürger? Der Zufall, in Lebensbedingungen hineingeboren zu sein, die man sich nicht ausgesucht hat – ein einziger Service, der nur von Vorteil sein kann? So gesehen ist es in der Tat eine ätzende Vorstellung, mit einer italienischen Identitäts-Karte herumlaufen zu müssen. Als Deutsche!

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Wir Deutsche hatten es sogar doppelt schwer. Erst seit „wir wieder wer sind“, wissen wir, wer wir sind.

„Seit dem 3.10.90 ist der deutsche Staat die einzig denkbare Hülle der deutschen Nation geworden. Mit der Vereinigung ist erstmals in der Geschichte die Frage entschieden: Wo ist des Deutschen Vaterland!“ (Hagen Schulze auf dem 1. gesamtdeutschen Historikertag)

Wie Daten doch das Denken bestimmen! Kaum ist die DDR geschluckt – schon sehen Historiker ihre fixe Idee, die Nation sei ungefähr seit 1848 auf der Suche nach einer ihr entsprechenden „Hülle“, in Gestalt des gewachsenen Deutschland befriedigt. Kaum ist das Volk der ehemaligen DDR seine alten Führer los – schon erklären sie dessen Unterwerfung unter die Neuen zu einer theoretisch wie praktisch alternativlosen Bestimmung, die den Deutschen ungefähr bis zum St.-Nimmerleins-Tag vorhersagt, unter welche Herrschaft sie gehören.

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29. März 1990. Bild („Die Einheit des Vaterlandes in Freiheit – das ist unser Auftrag“, Axel Springer †) meldet auf Seite 1:

„Das Vaterland gehört zu unserem Schicksalskostüm. Man kann es nicht umtauschen“ (Ernst Jünger, der heute 95 Jahre alt wird)

– es sei denn, gegen ein größeres!

Die Frage, ob sich nun unsere geistige Elite dem Niveau des Volksverhetzungsblattes angenähert hat oder umgekehrt, erübrigt sich allerdings: Schwarz-rot-golden wird gedacht – und darauf kommt es an!

Schilder

Deutschland ist größer geworden. Das ist gut. Aber wie hört sich das denn an? Profan. Häßlich. Gefährlich. Und das ist schlecht. Ein echtes Problem für Schönfärber. Darum ist klar: Neue Schilder braucht das Land!

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„Ich würde dringend davor warnen, den Namen ‚Deutsches Reich‘ noch einmal zu gebrauchen. ‚Bundesrepublik‘ war ein sehr guter Einfall. Sie werden sagen, 2 Worte können nicht erschrecken, doch sie können es.“ (Golo Mann)

Verkaufsschlager Nr.1 lautet also: Gib dem Kind einen nicht negativ besetzten Namen – jeder wird es für einen Prachtkerl halten!

„Wir brauchen: Eine nicht allzu dick unterstrichene nationale Identität; natürliche Ästhetik des Staates, aber im schlichten Design; ein Staatsname, der keine falschen Erinnerungen weckt…“ (Peter GLOTZ, Medienexperte)

Verkaufsschlager Nr.2: Der Staat als IKEA-Möbel. So kann uns niemand mit Eiche rustikal oder mit Hitler verwechseln.

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Experten haben zurückgerechnet:

„Im Jahre 1990 ist nochmals die kleindeutsche Lösung von 1866, der Ausschluß Österreichs, bestätigt worden“ (Heinrich August Winkler im „Parlament“),

was glasklar zeigt, daß der angeblich expansive Anschluß der DDR in Wahrheit ein Verzicht auf Österreich und Polen war! Schilder malen ist eben auch eine Frage der Optik.

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Und im Fernsehen berichten sie, daß Furcht vor einem aggressiven deutschen Nationalismus längst gegenstandslos ist:

„Daß die deutsche Geschichte sich im 19. Jhd. plötzlich so verschärft hat, hängt mit 2 Problemen zusammen: Einmal mit dem sog. verspäteten Nationalstaat, also der verhältnismäßig späten und unter schwierigen Bedingungen zustandegekommenen nationalen Einigung; zweitens mit dem Nachholbedarf bestimmter imperialer Tendenzen. Das beides ist im Ersten, v.a. aber im Zweiten Weltkrieg – endgültig, will ich sagen – zu Ende gegangen. Teilweise widerlegt, teilweise anachronistisch geworden. Insofern leben wir heute tatsächlich in einer anderen Zeit.“ (Karl-Dietrich Bracher in der TV-Diskussion „Einig Vaterland – Die Lehren der Geschichte“)

Was für ein Beweisverfahren! Prämisse: Nationalstaaten müssen sich austoben. Das liegt, zumindest während der Wachstumsphase, in ihrer Natur. Folgerung: Da Deutschland spät dran war, hatte es noch allerlei „nachzuholen“: Erster und Zweiter Weltkrieg. Beide gingen verloren. Schluß: Deshalb führen wir keinen mehr – „endgültig“! Es ist zwar nicht einzusehen, warum der „Bedarf“ einer Nation, die das Bedürfnis nach 2 Weltkriegen hatte, ausgerechnet durch 2 Niederlagen „widerlegt“ bzw. „anachronistisch“ werden sollte – wieso nicht noch ein dritter Versuch? –; und es ist auch gar nicht zwingend, „imperiale Tendenzen“ für ausgestorben zu erklären, bloß weil Deutschland über 40 Jahre keinen Krieg führte – aber jede Menge Macht & Reichtum gewann; doch was soll’s – Bracher denkt eh von der Absicht seiner Beweiskette her: Insofern sind wir heute „tatsächlich“ von jedem Verdacht gereinigt!

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Es wird also fleißig etikettengeschwindelt in diesen Tagen der „Wende“. Unser Dorf soll schöner werden – genauer gesagt: seine Fassade! Wir tauchen es in sanftes Licht; preisen die natürliche Grazie seiner Staatsorgane; packen unser feinstes Schwafelsilber aus; machen sogar den Hitler-Vergleich auf, aber nur, um ihn zurückzuweisen – kurz: man muß es einfach mögen…

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Böse Zungen fragen: Was muß das für ein Monster sein, das soviel Tünche braucht? Kluge deutsche Köpfe, die hinter so mancher Zeitung stecken, plagt dagegen die Frage, warum wir uns überhaupt so quälen müssen beim Sprachregeln:

„Wie kann es für uns Deutsche bei der Frage der Oder-Neiße-Linie um die ‚polnische Westgrenze‘ gehen statt um die deutsche Ost-grenze? Ich kann diesen deutschen national-masochistischen semantischen Betrug nicht mehr hören oder lesen“ (FAZ-Leserbrief, 8.3.90).

Kennen Sie den? Schreibt ein Staatsmann dem anderen: ‚Hiermit erkläre ich Ihre Südgrenze zu meiner Nordgrenze…‘. Da lacht der deutsche Zeitungsleser.

Echtes Geld

Früher mußten die Zonis immer Schlange stehen. Mit ihrem alten Geld konnten sie sich wenig kaufen, weil es wenig Waren und wenig Auswahl gab. Das sprach gegen ihr System. Heute stehen die Zonis wieder Schlange. Sie bekommen neues Geld. Damit dürfen sie jetzt Einkaufen gehen in der reichhaltigen Warenwelt des Westens. Nur die Preise müssen sie bezahlen können. So wird jedes Stückchen Leben in der Marktwirtschaft zu einer Frage des Geldbeutels. Das spricht für dieses System:

„Daß Geld auch arbeiten kann, das ist für sie eine neue Erkenntnis“ (Begeisterter Reporter am 1.7.90 über die Menschentrauben vor den neuen Banken).

Könnten wir dann vielleicht noch mehr davon haben? Aber nicht doch: Nicht Haben – blankes Staunen ist angesagt am Tag der „Währungsunion“! Was dieses Geld alles kann! Für wen es diese wundersamen Leistungen erbringt, spielt eine eher untergeordnete Rolle; dafür ist unsere neue Gesamt-Deutschmark viel zu identitätsfördernd:

„Groß ist der Erfolg der ersten Anleihe des Sonderfonds Deutsche Einheit. ‚Deutsch‘ und ‚Einheit‘: Wer wollte da nicht an einen guten Zweck denken?“ (SZ, 7.7.90)

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Die verlogene Gleichung ‚D-Mark im Land = Glück in der Hand‘, die eh mehr aufs Gemüt unserer Brüder und Schwestern als auf deren Kaufkraft berechnet war, läßt sich auch kritisch wenden. Den Patriotismus der Zonis mit Geld zu ködern, schreibt Edel-Philosoph Jürgen Habermas in der Zeit, macht gar nicht glücklich: „DM-Nationalismus“ verdirbt bloß den Charakter und verhindert „Verfassungs-Patriotismus“! Selbigem hätte er gerne mit einem „Volksentscheid über gesamtdeutschen Bundesstaat oder Föderation“ auf die Sprünge geholfen:

„Erst angesichts dieser frei zu entscheidenden Alternative kann zu Bewußtsein kommen, daß die Konstituierung einer einzigen Staatsbürgernation auf den Territorien der Bundesrepublik und der DDR keineswegs durch vorpolitische Gegebenheiten der Sprachgemeinschaft, der Kultur oder der Geschichte präjudiziert ist. Deshalb möchte man wenigstens gefragt werden.“

Wogegen polemisiert der Verfassungspatriot eigentlich? Gegen die Vereinigung der Territorien? Gegen die Härten der DM-Herrschaft? Keineswegs. Was mit den Werken von Politik und Geschäft für die davon Betroffenen entschieden ist – Unterwerfung unter die ökonomischen Gesetze der Marktwirtschaft –, interessiert ihn nur in einer Hinsicht: Es ist ohne den Schein der freien Auswahl präjudiziert! Man möchte wenigstens Ja sagen dürfen. Sorgen hat der Mann!

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Habermas’ Statement steht für eine beliebte Nörgelei am Alltag des neuen Deutschlands, die überhaupt alles auf den Kopf stellt. Der Zweck des Anschlusses – die territoriale Ausbreitung des deutschen Kapitalismus – und die unschönen Spuren, die das überlegene System an den meisten hinterläßt, werden gedeutet als Störung des eigentlichen Auftrags: „Wiedervereinigung“ der Staatsbürger! Dann verhindert Arbeitslosigkeit plötzlich hochprozentigen Patriotismus; wer nur Sparkassen aufstellt, untergräbt das Freiheitsgefühl; und wenn man den Leuten nichts zu essen gibt, reimen sie keine Verse mehr…

Es wird Klage geführt, wie schwer es uns gemacht wird, DAFÜR zu sein! – Genau so geht’s.

Stimmung

Wie war das noch drüben? Alles grau in grau, aber freuen mußte er sich, der realsozialistische Mensch: Einmal im Jahr von Honecker zur Jubelparade abkommandiert, fähnchenschwenkende FDJler und zur Schau gestellter Optimismus – wir erinnern uns! Und jetzt? Heute erfährt der freie gesamtdeutsche Meinungsinhaber jeden dritten Tag aus der Bild-Zeitung – seinem unbestechlichen nationalen Stimmungs-Barometer –, wie Deutschland, also er sich zu fühlen hat! Wobei die Meldungen sich grundsätzlich nach ihrem Propagandawert zu richten haben.

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23.10.89: „In West-Lokalen wird doppelt so häufig gelacht wie in Ost-Gaststätten“!

Hat die berühmte berühmte Psychologin ermittelt. Und wir dachten immer, in der DDR hätten sie Lachzwang.

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9.11.89: Es ist einfach Wahnsinn! Endlich haben auch die Ossis mehr als die 3 Eimer voll zu lachen. Vor allem aber vollzuheulen. Der Vermischung von menschlicher Wiedersehensfreude, begriffsloser Dankbarkeit und Jubel über den Zuwachs der Nation wird mächtig nachgeholfen. Lage prima, Stimmung prima.

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1990. Die gute D-Mark kommt zu den Massen, dann wird beigetreten. Es kann also nur aufwärts gehen:

Januar: „1,2 Millionen – Erster Lotto-König aus der DDR!“
November: „Wirtschaftsinstitute prophezeien Aufschwung!“

Doch plötzlich läßt die Stimmung zu wünschen übrig. In gesamtdeutschen Kneipen wird weniger gelacht. Das ist ein Fehler. Denn die nationale Sache verlangt und verdient bedingungslose Begeisterung – mit oder ohne Lottogewinn, mit oder ohne Aufschwung in der eigenen Hütte:

August: „Jetzt ist harte Arbeit angesagt, nicht lamentieren!“
September: „Wenn die Frustrationsexperten jammern und die Katastrophenprofis das Spiel bestimmen, verheddern wir uns“ (Blüm).

Genossen! Wie lautet die Parole zum I. Parteitag der Deutschen Einheit? Vorwärts und die Brille nicht vergessen! Frustriert über die Segnungen des Freien Westens? Alles eine Frage der Einstellung! Mittlere Katastrophen im Portemonnaie? Laßt Euch nichts einreden und reißt Euch am Straps!

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91/92. Zuerst die gute Nachricht. Sie ist zwar schon etwas älter, kann aber nicht oft genug betont werden:

„Deutschland Ende 1991: Wir haben die Einheit. Wir haben das Weltgespenst des Kommunismus nicht mehr.“ Ergo: „Wir haben genug zu essen, zu trinken, zu leben.“

Vor allem, wenn man immer schön daran denkt:

„Armut ist relativ. Ein Sozialrentner aus der Eifel ist vermutlich reicher als ein Staatssekretär von der Elfenbeinküste. Der Vergleich nutzt freilich beiden nichts“ (Kommentar, 23.4.92),

was ihn freilich nicht unnütz macht: Zufriedenheit ist schließlich eine Frage des Kopfes, nicht des Magens!

Nun die schlechte. Das Volk hört nicht! Ungerührt geht es seinen schlechten Gewohnheiten nach, hängt auf dem Arbeitsamt oder im Stau herum und findet das bei allem Überfluß auch noch in Ordnung:

22.11.91: „Deutschland im Herbst – Das Unbehagen steigt! Ladendiebstahl, Fahrradklau, Handtaschenraub, Steuerhinterziehung, Verkehrsinfarkt – alles normal.“

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Dem Vaterland immer die richtige Stimmung besorgen – das ist unser Auftrag! Hoffnung auf Teilhabe am Erfolg der Nation ist erstes Lebensmittel ihrer Bürger, Zuversicht die Produktivkraft staatlichen Fortschritts – mit dem Gesinnungsschnüfflern eigenen Hang zur Übertreibung, von der Begeisterung für das „Modell Großdeutschland“ hinge dessen Gelingen ab, bekommen sie alle ihr Fett weg: Politiker, weil sie es an der nötigen „geistigen Führung“ ihrer Untertanen fehlen lassen und sich „stattdessen“ die Diäten erhöhen; das Volk, weil es keine Dauer-Einheits-Fete feiert und sich „stattdessen“ um seine Alltagssorgen kümmert.

Damit sich keiner täuscht: Wenn diese schwarz-rot-goldenste aller Zeitungen etwas von anderen Meinungsmachern unterscheidet, dann ist es ihre Art, diesen nationalen Fahndungsstandpunkt in fette, plakative Überschriften zu pressen – gewiß nicht der Standpunkt selbst.

Mauer Im Kopf

Sie kann uns die ganze schöne Einheit kaputt machen. Warnen nicht nur Richard von Weizsäcker und Heinrich Heine –

„In Deutschland haben wir heute die Aufgabe, uns zu vereinigen. Und ‚Deutschland‘, so sagt Heine, ‚Deutschland, das sind wir selber‘“ (Weizsäcker bei der Verleihung des Heine-Preises 1991),

sondern auch die Bundespost und CARINA, „die junge und engagierte Frauenzeitschrift“, die gemeinsam unter dem Motto „Die Mauer im Kopf muß weg!“ ein Preisausschreiben veranstalten:

„Die Deutschen in Ost und West sind noch nicht zusammengewachsen. Dabei (?) kennt der eine den anderen doch kaum näher. Genau das möchten wir jetzt ändern, um diese einmalige geschichtliche Chance nicht zu verpassen, sondern sie zu nutzen.“

Eigentlich nicht weiter schwer, müssen wir doch nur uns selber, also dem deutschen Wesen in uns, begegnen und höflich ‚Grüß Gott‘ sagen.

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Doch genau damit gibt es Probleme. Einerseits haben wir den Deutschen (Ost) bereits kennengelernt: Als minderwertige Gattung,

„die nur noch für eine Art primitiver Kommandowirtschaft verwendbar war. Deshalb kann diesen Deutschen nur eine langfristige Rekultivierung, eine neue Ostkolonisation helfen“ (Prof. Arnulf Baring: „Deutschland, was nun?“)

– ein Befund, der bestenfalls durch den zweifelhaften Idiotenschein zu entschuldigen ist, aufgrund der repressiven Strukturen psychisch hochgradig deformiert zu sein (DDR-Psychiater H.J. Maaz). Andererseits fragt sich der sensible Deutsche, ob man dieses Urteil unbedingt so eroberungsmäßig ausdrücken muß (und es nicht reicht, diesen stalinistisch versauten Jägern und Sammlern niedrigere Löhne zu zahlen). Daß der Zoni wegen 40 Jahre falschem System umgekrempelt gehört, darüber ist sich jeder sicher (auch er selbst!) – aber man kann’s ihm ja auch auf partnerdeutsch beibringen:

„In der DDR ist aufbauende Missionierung gefragt. Tiefer Mutlosigkeit kann durch echte Partnerschaft begegnet werden.“ (Ein Ost-Dichter in der FAZ, 3.8.90)

Der Wessi soll sich also nicht als Besser-Wessi aufspielen (dann glaubt der Ossi-Neger sofort, daß er alles besser weiß). Mit dieser nationalen Anstandsregel vollendet sich der bis zum letzten Sozialhilfeempfänger durchgesetzte Wessi-Wahn, im Systemvergleich als Sieger abgeschnitten zu haben, in der herablassenden Mahnung, die zukurzgekommenen Ostler nicht auch noch zu verachten!

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Überhaupt gilt: Man soll nicht Ossi/Wessi sagen! Und warum nicht? Weil wir ein Volk sind! Eine recht diffizile Aufforderung, die Weizsäcker, Kohl und Lafontaine da in Umlauf gebracht haben: Der gleiche Nationalstolz der Deutschen, der höchst erwünscht ist, wenn und damit sich die Leute zu einer pflegeleichten Manövriermasse zusammenschließen, ist unerwünscht, wenn damit subnationale Rechnungen aufgemacht werden. Die gleichen schäbigen Verdrehungen ihres vaterländischen Berechtigungsbewußtseins – wem steht was zu in Deutschland? –, das Asylanten gegenüber durchaus am Platze ist, soll im Falle Ossi ausnahmsweise nicht gelten! Wie gesagt: Ganz schön diffizil, zum richtigen Zeitpunkt am rechten Ort den passenden Nationalismus drauf zu haben.

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Von den Urhebern der Parole allerdings sehr konsequent gedacht. Dem beschwörenden Wir sind ein Volk folgt nämlich heutzutage stets eine Forderung auf dem Fuße: Teilen – das gesamtdeutsche Wort für Schröpfen! Diesen harten Kern der Trauer über die „verflogene Euphorie“ der Verbrüderungsorgien vermag niemand besser auf den Punkt zu bringen als „das deutsche Nachrichtenmagazin“:

„Bundeskanzler Kohl, der seine Chance packte und die Vereinigung der beiden deutschen Teilstaaten so bravourös vorantrieb, hat die Aufgabe nicht gesehen, die danach kam. Er hat die erste Begeisterung der Menschen nicht genutzt, um sie auf Opfer vorzubereiten. Er hat die Deutschen mit ihren Illusionen allein gelassen – und muß ihnen jetzt eine hohe Rechnung präsentieren.“ (Spiegel-Titel: „Das Teilen beginnt“, 18/92)

Politikerschelte im Namen der Wiedervereinigung: Wir brauchen Führer, die die nationale Besoffenheit am Kochen halten und die notwendigen Kosten der Einheit, die sie sowieso eintreiben, dem Volk beizeiten als vaterländische Pflicht verklickern! Wobei „Kosten“ in diesem Fall kein Klagetitel von unten, sondern Rechtstitel von oben ist. So wird das alte Pathos, die Einheit sei ein im Grunde unbezahlbares Geschenk der Politik an ihre Bürger, fruchtbar gemacht: Man kann gar nicht genug dafür abkassieren.

Jetzt versteht sogar die linke Öffentlichkeit die Mehrwertsteuer:

„Steuer-Erhöhungen sind ein zwar schmerzhafter, aber ein heilsamer Zwang – zum Zusammenwachsen“ (Die „tageszeitung“).

Verantwortung

Auch im Verhältnis zu unseren Nachbarn gibt es ein Problem:

„Bundeskanzler Kohl sucht internationale Befürchtungen zu zerstreuen, das vereinte Deutschland könne eine zu starke Psosition in der Welt bekommen. Zwar sei die Bundesrepublik mit der Vereinigung ein stärkeres Land geworden…“ (FR, 11.1.92)

– doch kennen wir so viele schöne Antworten, daß wir uns dem häßlichen Verdacht gerne stellen:

1. Eingebundenheit: „Es gibt heute den Verdacht, Deutschland wolle erneut seine politische Stellung in der Welt verbessern. Aber wir sind ja eingebunden in große internationale Verbände: in die Nato, in die europäische Verteidigungsgemeinschaft, in den europäischen Kulturbereich.“ (Fritz Fischer, Historiker)

Ein lustiges Dementi. Wer oder was hat sich denn nun geändert? Die Absicht der Politik, deutsche Weltgeltung zu vergrößern – oder der Umstand der „Eingebundenheit“? Man hat uns „Zügel angelegt“ – welch schöner Beweis für gewachsene Friedfertigkeit! Außerdem: Wieso geht der Hinweis, daß Deutschland heute nicht mehr alleine, sondern EG- und Nato-weit in größerem Rahmen agiert, eigentlich so ohne weiteres als Bremse durch?

2. Verantwortung: „Der künftige deutsche Staat wird sich der Übernahme weltpolitischer Verantwortung nicht entziehen können. Die machtpolitischen Versuchungen, die an das vereinigte Deutschland herantreten werden, sind allerdings eingeschränkt durch eine klare Option zugunsten des Engagements des Eingebundenseins in die EG.“ (Prof. Hans Mommsen)

Wir entnehmen dem Deutschen Handlexikon für Politiker, Pressefritzen und Professoren, (Ausgabe ’92): „Macht“ = Versuchung, kann Staaten überfallen (–» Imperialismus). Wie –» Naschsucht. Wollen Schokolade essen, die sie gestohlen haben (–» Saddam). „Verantwortung“ = Auftrag, wird erteilt (–» Weltgemeinschaft). Kann nicht zurückgegeben werden. Schokolade weltweit (–» Deutschland). Von deutschem Boden wird also nie wieder Macht, umso mehr Verantwortung ausgehen…

3. Selber aggressiv! „Wir fast 80 Millionen Deutsche gehören zusammen, und wir kommen zusammen. Wer uns abweist oder zu behindern sucht, muß wissen, was er sich, was er uns und was er Europa zufügt. Das nationalistische Bemühen unserer Freunde und Verbündeten neu zu beleben, ist tief verletzend und erzeugt Nationalismus.“ (Dr. Helga Henselder-Barzel, Januar 90).

Endlich mal ein Einwand gegen Nationalismus – im Ausland! Deutschland rottet sich zusammen? Nur aus bester internationalistischer Absicht – für Europa! Noch Gegenstimmen? Purer Nationalismus! Allerdings könnten auch wir… – Aber dazu mußte es bisher ja nicht kommen.

4. Was soll der Quatsch? „Es dient nicht der Ausbreitung des Realitätssinns, wenn der Außenminister erklärt, wir lehnten Machtpolitik ab, wollten sie durch Verantwortungspolitik ersetzen. Welch seltsame weltfremde Alternative! Diese Wirklichkeitsflucht verdeckt, daß es immer und überall auf einen verantwortungsbewußten Gebrauch von Macht ankommt, worauf denn sonst?“ (Baring)

Man spürt das Interesse: Vielen öffentlichen Vordenkern gilt die Pflichtübung, den konfliktträchtigen Charakter einer europäischen Zentralmacht Deutschland semantisch tilgen zu wollen, inzwischen als kleinmütig, weil das gute Recht der Nation auf Durchsetzung ihnen Argument genug ist – und keiner ist verstimmt. Wir sind nämlich

Wieder normal

Sprich: Auf dem besten Wege, uns mit der Weltmacht Nr.1 messen zu können bzw. nur noch an ihr messen zu wollen. Nur der Kopf will angeblich noch nicht so recht:

„Worauf sind die Deutschen stolz? Auf die Fußball-Elf, auf den Schützenverein, aufs Häusle, die wirtschaftliche Leistung der Bundesrepublik. Ein Stolz mit menschlichem (?!) Gesicht, eher ein privater Stolz. Manchen deutschen Zivilbürger mutet es dagegen fremd an, wenn US-Präsident Bush nach beendetem Krieg gegen Saddam Hussein seinen Landsleuten zuruft: ‚Es ist Zeit, stolz zu sein. Stolz auf unsere Soldaten, stolz auf unsere Freunde, die in der Krise zu uns gestanden haben‘. Diese Sorte Stolz ist den Deutschen unheimlich.“ (Herbert Kremp, Diagnose Deutschland: Wie krank ist unser Land, April ’92)

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Fazit: Jetzt wäscht zusammen, was zusammen gehört!) (Werbeslogan für das Ost-Waschmittel „SPEE“). Waschen Sie mit – das gute SPEE ist okee!